Artikelkategorie: Buchbesprechungen

Manitoba

Linus Reichlin »Manitoba« – Manitoba ist kein historischer Roman. Und doch passt er gut in das Konzept unseres Journals. Denn Manitoba ist ein Roman über Geschichte, ihre Bedeutung im Großen wie im Kleinen, über die Vergangenheit und die Erinnerung an vergangenes, im im engen und im weiten, ja weitesten Sinne. Damit wird »Manitoba« zu einem Roman über Identität, über ihr Wesen und ihre Bedeutung. Am Anfang des Romans steht die Familiengeschichte des Schriftstellers Max Beer: »Es ist eigentlich merkwürdig, dass ich erst jetzt nach Fort Washakie fuhr und nicht schon vor dreißig Jahren. Ich war mit dem Namen dieses Ortes aufgewachsen. … An einem Winterabend, an dem vor dem Fenster meines Zimmers große Flocken fielen und es im ganzen Haus sonderbar still war, saß sie an meinem Bett und erzählte mir mit leiser Stimme von ihrem Großvater, der ein Indianer gewesen sei …« {Seite 5} So beginnt der Roman von Linus Reichlin. Der Ich-Erzähler Max Beer stammt aus der Schweiz, und lebt inzwischen in Berlin {hier weist der Roman durchaus autobiographische Züge auf}. Der Schriftsteller …

Die Toten

Christian Kracht: »Die Toten« – Die Anfänge des Kinos waren, wie allgemein bekannt, wenig glamourös. Auf Jahrmärkten und in »Ein Nickel-Buden« {Nickelodeons} wurden kurze Filme vorgeführt, das Publikum duckte sich schreiend vor vermeidlich herannahenden Zügen und lachte über Stolperfritzen. Die »Hochkultur« wollte von diesem Medium lange nichts wissen. Der technische Fortschritt des Films, insbesondere das Aufkommen des Tonfilms fiel in Europa zusammen mit dem Aufkommen des Faschismus. Die neuen Machthaber in Deutschland, Spanien und Italien erkannten in der Breitenwirkung des Films das geeignete Mittel, um ihre Propaganda unters Volk zu bringen. Dabei war vornehmlich in Deutschland der ideale Propaganda-Film der, von dem die Zuschauer vor allem unterhalten wurden, sie sollten nicht bemerken, dass sie für ein Weltbild vereinnahmt wurden. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 30er Jahre ist Christians Krachts Roman »Die Toten« angesiedelt. Der Roman beginnt mit einer Filmszene: Ein Japaner begeht rituellen Selbstmord. In der Pornografie würde man von »Snuff« sprechen, der realen Tötung vor laufender Kamera. Diese Filmaufnahmen sieht Nägeli, ein Schweizer Filmemacher, der schon lange etwas großes Schaffen will, aber ihm fehlt …

Cox oder der Lauf der Zeit

Christoph Ransmayr »Cox oder der Lauf der Zeit« – Die Zeit ist nicht absolut, sie ist relativ, das wissen wir spätestens seit Einstein. Unter bestimmten Bedingungen des Universums verlangsamt oder beschleunigt sich ihr Verlauf, etwa in der Umgebung oder dem Inneren eines Schwarzen Lochs. Und mancher Spaßvogel mag dem hinzufügen, dass jeder Zahnarztbesuch wie ein Schwarzes Loch ist: Man bewegt sich viel zu schnell darauf zu und dann, zwischen Spritze und Bohrern, will die Zeit nicht mehr vergehen. Alle Lebewesen sind der Zeit unterworfen – unsere Zellen sind selbst Uhrwerke – alle Lebewesen? Nein, es gibt einen Herrscher im fernen China, der sich »Herr über die Zeit« nennt. Und dieser Kaiser von China ruft am Ende des 18. Jahrhunderts den englischen Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof und beauftragt ihn, Uhren zu bauen, die das relative Zeitgefühl des Menschen wiedergeben, die also nicht das physikalische sondern das emotionale Maß nehmen. Cox reist mit drei Gehilfen in das ferne Reich und stellt sich der Aufgabe. Zum Glück verzichtet das Buch weitgehend auf museale Details des Uhrenbaus, …

Odéonia, Paris

Veneda Mühlenbrink »Odéonia, Paris« – Allein sitzt Sylvia Beach 1961 im »Les Deux Magots«. Es ist der 3. Juli und die ›New York Times‹ titelt an jenem Tag: »Hemingway Dead of Shotgun Wound; Wife Says He Was Cleaning Weapon.« Sylvia indes weiß es besser. Mitnichten hat sich ein Schuss beim Säubern aus Hemingways Waffe gelöst und ihn getötet. Sie kannte Hem besser, denn damals in Paris sprach er oft und gerne über den Freitod. Und nicht nur er. Nur war Paris, war das »Les Deux Magots« damals ein anderer Ort …  »Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde« – So lautet der Untertitel dieses Romans. Ein dezenter Hinweis vielleicht für all jene, die mit dem eigentlichen Titel »Odéonia, Paris« nicht sogleich die Buchhändlerinnen – sowieso eine ein wenig irreführende Bezeichnung, waren doch beide so viel mehr als das – Adrienne Monnier und Sylvia Beach sowie die gesamte Pariser Literaturszene {inklusive des legendären Salons der Schriftstellerin Gertrude Stein, die den Begriff ›Lost Generation‹ erdachte hatte} der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verbinden. Beach und Monnier, …

Die Spionin

Paulo Coelho »Die Spionin« – Mata Hari – eigentlich Margaretha Gertrud Zelle – hat schon oft die Phantasie der Menschen angeregt, und damit verdiente sie auch ihr Geld: In selbst entworfenen Tänzen, denen sie ein hinduistisches Erbe andichtete, entblätterte sie sich und das zu einer Zeit, als ein entblößter Frauenknöchel schon als zu anzüglich galt. So kommt Coelho auch zu der Aussage, dass ihre Hinrichtung nicht aus ihren sporadischen Spionage-Tätigkeiten folgte, sondern aus dem Umstand, dass sie als Frau selbstbewusst mit ihrer Erotik umging: »Verurteilt wurde ich nicht wegen Verbrechen, die ich tatsächlich begangen habe – und deren größtes es war, in einer von Männern beherrschten Welt eine emanzipierte, unabhängige Frau zu sein.« {22} Er lässt Mata Hari in seinem Buch selbst zu Wort kommen, in einem fingierten Brief an ihren Anwalt. Und dieses Konstrukt trägt nicht: Ein Mensch, dem die Hinrichtung droht, würde sich darauf konzentrieren, die bestehenden Vorwürfe zu entkräften. Seine Mata Hari aber plaudert über ihre Lebensstationen. Dabei scheint Margaretha zunächst gar kein eigenes Leben zu haben: Sie ist das Opfer männlicher …

Grimms Albtraum

Esther Grau »Grimms Albtraum« – Einst brachte sie wohl mit ihren wenig damenhaften Sticheleien Wilhelm Grimm um den Schlaf, sein Albtraum ist in einem Brief dokumentiert. Von daher rührt der Titel des Romans: Grimms Albtraum. Er steht wohl für den sperrigen Charakter der Hauptfigur, der vermutlich bedeutendsten deutschen Dichterin des Biedermeiers, Annette von Droste-Hülshoff. Auch ich wurde in der Schule mit der »Judenbuche« traktiert, zudem sicher auch mit dem ein oder anderen Gedicht der adligen Dame aus dem Münsterland, an das ich mich nicht mehr erinnere. Bis in den Tatort aus Münster hat es die Dichterin aus Hülshoff geschafft. In der Folge »Der dunkle Fleck« ist »Der Knabe im Moor« zu hören, »Die tote Lerche« wird in einer nächtlichen Friedhofsszene der Tatort-Folge »Ruhe sanft« aus dem Jahr 2007 vorgetragen. Vielmehr wusste ich eigentlich nicht über sie. Mit der Lektüre dieses nicht nur unterhaltsamen, sondern auch bereichernden Buches hat sich dieser Umstand erfreulich geändert. Und es zeigte sich: Diese mir bislang unbekannte Annette war eine ganz erstaunliche Frau. Es beginnt im Januar 1797, gerade jetzt also …

Tod am Semmering

Beate Maly »Tod am Semmering« – Es ist immer eine Freude, wenn allein der Anblick eines Buches bereits entzückt. Noch viel schöner ist es natürlich, wenn der Inhalt den dadurch geweckten Erwartungen entspricht. Der Roman der Österreicherin Beate Maly, »Tod am Semmering« spielt 1922, wie der Name verheißt, am Semmering. Es ist die Zeit des Jugendstils, und das vermittelt das Cover des Buches schon auf den ersten Blick. Und passend dazu führt uns die Autorin in das Luxushotel Panhans am Semmering – für den unkundigen Leser wird im Anhang erklärt, wo sich dieser befindet – und fühlt sich sogleich versetzt in die zwanziger Jahre, mit Zigarettenspitzen und Fransenkleidern. Ein Tangokurs lockte die noble Gesellschaft in das feine Hotel, das heutigentags in einer halben Stunde von Wien aus per Zug zu erreichen ist, seinerzeit jedoch dauerte es dreimal so lange. Die Bankierswitwe Rosalia Schwarz hat den Kurs organisiert, dessen Erlös einer Wohltätigkeitseinrichtung zugutekommen soll, die Kriegswaisen unterstützt. Angesichts des hochkarätigen … ▹ Buchbesprechung lesen!

Die Abtei der hundert Sünden

Marcello Simoni »Die Abtei der hundert Sünden« – Auf einer Lesung während der Crime Cologne stellte der Autor seinen Roman vor. Und es sei vorweg gesagt, dass, wenn man beabsichtigt, den vorgestellten Roman zu lesen, sollte man auf den Besuch einer Lesung mit Marcello Simoni verzichten. Der Autor erzählt sehr bereitwillig über die Handlung, seine Personen, deren Charaktere – dass man das Buch eigentlich nicht mehr lesen muss, auch wenn Simoni das die Trilogie tragende Geheimnis dann doch verschweigt. Und dieses Geheimnis bleibt auch am Ende des Romans geheim. Denn »Die Abtei der hundert Sünden« ist das erste Buch einer als Trilogie geplanten Reihe um den Ritter Maynard de Rocheblanche und dessen Schwester Eudeline. Die Schlacht von Crécy bildet einen schrecklichen Höhepunkt des Hundertjährigen Krieges, in dem sich England und Frankreich gegenüberstanden. In dieser Schlacht wurden die Franzosen vernichtend geschlagen, unter den Besiegten ist auch der Ritter Maynard de Rocheblanche. Noch auf dem Schlachtfeld stößt er auf einen sterbenden Edlen. Es ist Jang de Blannen, der König Johann von Böhmen. Dieser bittet ihn um einen …

Der Taubentunnel

»Ich bin zum Lügen geboren …« – Der Taubentunnel – Geschichten aus meinem Leben, so heißt das Buch mit den Erinnerungen John le Carrés. Es ist ausdrücklich keine Biographie, die der sicherlich berühmteste Autor von Agentenromanen aus der Zeit des Kalten Krieges geschrieben hat. Ein seltsamer Titel, »Der Taubentunnel« – aber so lautete der Arbeitstitel fast aller seiner Romane, verrät le Carré gleich zu Beginn. Wenn man weiß, was er bedeutet, leuchtet ein, dass dies ein für all seine Romane treffender Titel ist. Im Taubentunnel erzählt le Carré nun Geschichten aus seiner Erinnerung, und fragt sich {und den Leser} sogleich, »was ist für einen Schriftsteller an seinem Lebensabend … denn Wahrheit, was Erinnerung?« Und er gibt auch sogleich die Antwort: »Für den Schriftsteller sind Fakten das Rohmaterial, nicht sein Lehrmeister, sondern sein Instrument, und seine Aufgabe besteht darin, dieses Instrument zum Klingen zu bringen.« {S. 15} Also folgen wir John le Carré durch die Windungen seiner Erinnerungen. Es ist wie ein Abend am Kamin, bei einem guten Glas Rotwein und einer Zigarre, an dem ein …

Engel der Themse

Wenn der Nebel durch Londons Gassen kriecht … – Es ist das Jahr 1864 als eine Reihe von Kindesentführungen London in Unruhe versetzt. Doch nein, nicht alle in der Stadt sind in Angst versetzt, sind es doch nur die Armen, die den Verlust ihrer Kinder verschmerzen müssen. Es heißt, der „Schatten“ hole sie. Hilflosigkeit herrscht allenthalben, denn was kann man gegen einen Schatten schon ausrichten? Die Polizei schaut tatenlos zu, verschwundene Kinder von Säuferinnen und Huren sind offenbar die Mühe nicht wert. Das muss auch die junge Gladys erfahren, deren neugeborener Bruder ebenfalls ein Opfer des „Schattens“ wird. Nur für eine Minute ließ das Mädchen ihn aus den Augen, während sie vor der Tür eines Lokals auf ihre Mutter wartete, eine Unaufmerksamkeit, die sie bitter bereut … Kurz & Knapp lesen