Think-tank in Unkel oder die Wiedergeburt des rheinischen Salons

Notiert von Alessa Schmelzer

Unkel. Diese kleine Stadt am Rhein, rund zwanzig Kilometer von Bonn in südlicher Richtung entfernt liegend, zog schon viele in ihren Bann. Neben Politikern (Adenauer war hier und Brandt lebte hier gar bis zu seinem Tod), einem Großindustriellen (Henkel) und einem Verleger (DuMont), zog es vor allem Schriftsteller:innen nach Unkel. In der Frühromantik lebte hier die ›Rheingräfin‹ Sibylle Mertens-Schaaffhausen in der eigenen Sommerresidenz. Auch Adele Schopenhauer, später mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen liiert, lebte mit ihrer Mutter, der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer dort. Und Mertens-Schaaffhausen, die literarisch und archäologisch Interessierte, war es auch, die in ihrem Haus am Rhein, genauer in Bonn, ihren rheinischen Salon etablierte. Annette von Droste-Hülshoff, die westfälische Lyrikerin von Rang, gleichermaßen mit Sibylle und Adele befreundet, war sowohl in Unkel als auch im Salon ein gern gesehener Gast. In den 1930er Jahren legte gar Virginia Woolf auf ihrer Deutschlandreise einen Stopp in Unkel ein. Jene Schriftstellerin, Hauptvertreterin der literarischen Moderne, die bereits 1928 vor Studentinnen die Bedeutung eines eigenen Zimmers für Frauen herausstellte – und heute, über neunzig Jahre später ist dieser Essay moderner und wichtiger denn je. Kurz, Unkel mag ein kleines Städtchen sein, aber offenbar eines von literarischer Größe.

Hier also, in dieser Kulturstadt am Rhein, rechtsrheinisch gelegen, schon zu Rheinland-Pfalz gehörend, hier also treffen sich seit 2011 einmal im Jahr die Schriftstellerinnen Brigitte Glaser, Julie Marsh, Jasna Mittler, Heidi Rehn und Beate Sauer zum Think-tank. Ein gemeinsam bezogenes Ferienhaus1 wird für einige Tage zum Dreh- und Angelpunkt eines intensiven kreativen Austausches.

In Köln

Bei sommerlichen Temperaturen treffen wir, Ilka und ich2, das illustre Quintett zu einer very British tea-time mit Scones, Sandwiches & Cakes in Brigitte Glasers Küche. Es ist, so viel sei verraten, ein afternoon tea wie er zur Jane Austen Zeit nicht schöner hätte zelebriert werden können (das beigefügte Foto vermag nur eine Ahnung der wahren Pracht zu geben).


© Julie Marsh
Lieben Dank Julie für das tolle Foto!

Beherrschendes Thema an diesem Nachmittag: ›Ideenschmiede Unkel‹ (als solche bezeichnet Glaser diese Treffen) und deren Bedeutung für das Quintett. Seit über zehn Jahren beziehen die Schriftstellerinnen für einige Tage ein Unkeler Ferienhaus. Die heutige Besetzung gab es zu Beginn noch nicht. Kolleginnen kamen über die Jahre hinzu, blieben und gingen. Erfolgte ein Wechsel, konnte eine Neue hinzustoßen. Jasna Mittlers Aufnahme erfolgte, auf Anraten Glasers, die beiden kannten sich schon lange über die ›Mörderischen Schwestern‹3, in den Jahren 2016/17. Zuletzt stieß Heidi Rehn zum literarischen Ensemble. Das war eine lustige Begebenheit, darin sind sich alle einig. Man flanierte, erzählen sie nun abwechselnd, durch Unkeln. Eigentlich seien sie auf der Suche nach Toilettenpapier gewesen. Zu Beginn der Pandemie war dieser Hygieneartikel, wir erinnern uns, besonders gefragt. In einem Schaufenster verfing sich der Blick indes an einem Heidi Rehn Roman. Das war ein Wink der besonderen Art. Denn sie alle – bis auf Jasna Mittler – kannten Heidi Rehn schließlich schon seit Jahren. Kurzerhand fragten sie bei der Kollegin an, erklärten sich und ihre Beweggründe und die Neue im Bunde ward aufgetan. Mit Heidi Rehn sei die Gruppe nun vollständig. Es sei eine, wie alle meinen, passende Anzahl und überhaupt handele es sich bei ihnen um eine ausgewogene Konstellation.

Die Chemie in dieser Runde ist stimmig, das ist auch an diesem Nachmittag in Köln deutlich zu spüren. Es sei eine besondere Vertrautheit unter ihnen. Und, wie Julie Marsh betont, getragen von gegenseitigem Respekt. Auch das ist wahrnehmbar. Unabdingbar ist dies sowieso, macht das Quintett in der Unkeler Klausur doch keine Ferien, sondern kommt für einige Tage zum kreativen Ideenaustausch zusammen.

Anders als Annette von Droste-Hülshoff, die im rheinischen Salon ihre Lyrik vortrug, stehen im Unkeler Quintett Themen wie z.B. die Ideen oder die Feinjustierung eines Plots im Fokus. Hier, fern des eigenen Schreiballtags, sind dies Fragen, die sich mit der Romangeschichte als solcher beschäftigen, wie: Funktioniert meine Plotidee? Ist diese oder jene Entwicklung nachvollziehbar oder nicht? Sind diese oder jene Motive einer Figur glaubwürdig oder wäre eine andere Herleitung besser? Funktioniert die zuvor ausgestellte Prämisse?

Auf Spaziergängen kann ein zuvor angesprochenes Thema erneut diskutiert werden. Manchmal ergeben sich neue Ansätze für eine Geschichte im Verlauf eines Gespräches, über Nacht, im Schlaf, beim afteroon tea oder beim gemeinsamen Dinner. In Unkel haben sie alle die Zeit, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Eine jede bezieht ihr eigenes Zimmer (Virginia Woolf lässt grüßen) und ist somit jederzeit in der Lage sich zurückzuziehen, Gespräche oder Gedanken zu reflektieren, einzuordnen, resümieren und/oder Notizen zu ergänzen oder zu vervollständigen.

Manchmal findet sich in Unkel auch die Zeit, Allgemeines zum Berufsalltag zu erörtern. Die Anforderungen, die in der heutigen Zeit an eine Schriftstellerin gestellt werden sind vielfältiger Natur und konzentrieren sich schon lange nicht mehr auf das ›bloße Schreiben‹. Wie sollen sich Schriftstellerinnen auf den unterschiedlichen social media Kanälen einbringen? Wozu Pseudonyme? Wie gehen die anderen mit allzu kritischen Bewertungen ihrer Romane um? Fragen über Fragen. Erfahrungsaustausch ist wichtig.

Das ist alles gar nicht so einfach und erfordert von jeder einzelnen von ihnen ein cleveres Zeitmanagement im eigenen Alltag. Zu schaffen ist es, das beweisen Julie Marsh, Beate Sauer, Jasna Mittler und Heidi Rehn, die wir auch in der digitalen Welt antreffen. Eine, die sich dort bewusst heraushält, ist Brigitte Glaser. »Ich bin ein analoger Mensch«, sagt sie. Wie wohltuend dieser Satz doch ist.

Rückfahrt

Auf der Rückfahrt (und auch später noch) sind meine Gedanken bei den anregenden Gesprächen rund ums Schreiben an diesem Nachmittag. Denn sind es nicht die Geschichten einer Schriftstellerin, die im Fokus stehen sollten? Diese, so denke ich, machen wohl den wahren Geist von Unkel aus.

Herzlichen Dank an Jasna, Julie, Brigitte, Heidi und Beate für diesen spannenden wie aufschlussreichen Einblick in den Unkeler Think-tank. Wir warten gespannt auf die Ergebnisse, die das Jahr 2023 bringen.

Buchbesprechungen:

▹ Jasna Mittler: Blau Auge (Ilka Stitz)

▹ Julie Marsh: Die Ladys von Somerset (Alessa Schmelzer)

Brigitte Glaser: Kaiserstuhl (Alessa Schmelzer) – erscheint im Oktober

▹ Heidi Rehn: Die Buchhandlung in der Amalienstraße (Alessa Schmelzer)

▹ Felicia Otten (Beate Sauer): Die Landärztin (Ilka Stitz)

  1. Die genauen GPS Koordinaten des Ferienhauses, es ist immer dasselbe, mögen geheim bleiben. ↩︎
  2. An dieser Stelle müssen wir eines gestehen: Ilka kennt alle Anwesenden seit Jahren, ist vor allem mit Brigitte Glaser freundschaftlich verbunden. Ich selbst lerne an diesem Tag zum ersten Mal Julie und Jasna kennen. ↩︎
  3. Die ›Mörderischen Schwestern‹ sind ein Netzwerk von Frauen. Ihr gemeinsam verfolgtes Ziel ist die Förderung der von Frauen geschriebenen, deutschsprachigen Kriminalliteratur. ↩︎