Artikelkategorie: Buchbesprechungen

Heldenflucht

Heldenflucht – Der große Krieg ist gerade vorbei, doch der Schrecken hält an. Anfangs hatte ja niemand mit länger andauernden Kampfhandlungen gerechnet. »Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt«, hatte Kaiser Wilhelm II im August 1914 versprochen. Es kam indes ganz anders. Der erste Weltkrieg wurde zu einem nie dagewesenen Schrecknis. Neue Distanzwaffen kamen zum Einsatz, denen die Soldaten in den Schützengräben nichts entgegenzusetzen hatten. Panzer, Flugzeuge und die Teuflischste: Giftgas. Kein anderer Krieg zuvor ist so gut dokumentiert wie dieser. Fotos, Filme und vor allem Briefe geben zu Herzen gehende Einblicke in die Realität des organisierten Tötens. Am Ende bleiben Leichenberge und zutiefst traumatisierte Überlebende zurück. Und angesichts der Folgen des Krieges stellt sich die Frage, was am Ende schlimmer ist, im Schützengraben an Giftgas zu ersticken, von einer Granate zerfetzt zu werden, oder von Albträumen gequält jede Nacht aufs Neue die Kampfhandlungen zu durchleben. Mit dem Verwesungsgeruch der toten Kameraden in der Nase. Der Roman »Heldenflucht« beginnt im Dezember 1918. Der Krieg ist vorbei, die zu …

Underground Railroad

Underground Railroad – Als ich mit der Lektüre von »Underground Railroad« begann, sah ich im Fernsehen einen Bericht über Frauenmangel in China als Folge der Ein-Kind-Politik. Ein Bauer erzählte darin, dass er sich auf dem Markt eine Frau aus Vietnam gekauft hätte, die sei ihm aber nach wenigen Tagen davon gelaufen. Er wäre daraufhin zur Polizei gegangen, aber statt ihm zu helfen, belehrte man ihn dort darüber, dass es in China nicht erlaubt sei, mit Menschen zu handeln. Der Bauer war über das Verhalten der Behörden nicht glücklich, immerhin hatte er sich für den Kauf der Frau verschuldet, und er war nach wie vor der Ansicht, dass man ihm zum Recht an seinem Eigentum verhelfen solle. Sklaverei ist keine gesellschaftliche Verirrung vergangener Zeiten, auch wenn sie keine gesetzliche Verankerung mehr besitzt. Und so kann man den Roman von Colson Whitehead auch nicht als historischen Roman bezeichnen: Unter Verwendung surrealer Elemente, die manchmal in die beklemmenden Szenarien von Horror-Filmen münden, hebt er das Thema auf eine allzeitliche Ebene. Ist Südstaatenromantik harmlos? Dabei lebt und leidet seine …

Langer Marsch

Langer Marsch – Nennt Clementine Skorpils Ich-Erzähler Wen Pi in »Langer Marsch« die Erinnerungen, die in seinen Händen eine Eigentätigkeit ohne eigenes Zutun entfalten. Für ihn mag das zutreffen. Für Skorpil nicht. Sie schafft ein beeindruckendes Konstrukt aus historischen Fakten und fiktiven Figuren und Schauplätzen, kunstvoll ineinander verwoben. Für den mit chinesischer Geschichte und maoistischem Personal nicht Vertrauten: Ein Personenregister vorneweg hilft, wenn man es genauer wissen will oder unterwegs den Überblick verliert bei all den fremd klingenden Namen. Man kann aber auch darauf verzichten, obwohl Skorpil die politischen Ereignisse in den Vordergrund stellt. Von der Tortur des Marschs erzählt sie in gnädig distanzierendem Rückblick. Die Eindringlichkeit ihrer Bilder, Sprache, des Ungesagten, die Authentizität der Figuren entfaltet bei aller Andeutung dennoch einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Dass die Zeit die Gnade des Vergessens verwehre, wie eingangs festgestellt, hat mit dem Thema zu tun. Es geht um Macht, die etwas mit den Menschen … » Gast-Buchbesprechung von Regina Schleheck lesen

Neu-York

Neu York – Es ist das Jahr 1746, welches das zwanzigste Jahr der Regentschaft Georges II ist, als der Romanheld Richard Smith in Neu-York eintrifft. Einem kleinen Nest an der Ostküste Amerikas, wo den Neuankömmling neben einer abgebrannten Festung eine Wand mit angenagelten Skalps begrüßt. Skalps von Franzosen, freundlicherweise angeliefert von den mit den Briten kooperierenden Indianerstämmen. – Wenn der Leser denn soweit kommt, denn die erste Hürde, die sich ihm in den Weg stellt, ist der erste Satz, der zunächst überwunden werden will. Er erstreckt sich über die erste Seite hinaus, wenn auch nur geringfügig. Immerhin eine Herausforderung, der die Leser heutzutage nicht häufig begegnen. So gesehen jedoch knüpft der Roman schon ab der ersten Seite stilistisch an die Abenteuer- und Schelmenromane des 18. Jahrhunderts an. Und eben das war auch das Bestreben des Autors, nämlich ein »koloniales Gegenstück zu Henry Fieldings ›Geschichte und Abenteuer von Joseph Andrews‹ oder zu dem Roman seiner Schwester Sarah Fieldings ›Die Begebenheiten David Simpels‹ zu schreiben. Schon auf den ersten Seiten lernt der Leser den Helden Richard Smith …

Die fremde Königin

Ein aufrechter König mit vielen Gesichtern – Rebecca Gablé hat sich vor allem einen Namen mit ihrer Waringham-Saga gemacht. Einer englischen Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen und Jahrhunderte erstreckt. Von Anfang an erweist sich Rebecca Gablé stets als profunde Kennerin der englischen Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In »Das Haupt der Welt« widmete sie sich dann erstmals der deutschen Geschichte. Damit schlug sie eines der für Deutschland prägendsten Kapitel nach Karl dem Großen auf, nämlich die Geschichte seines späteren Nachfolgers Otto I. Um seinen Aufstieg zum König der Franken und Sachsen geht es in »Das Haupt der Welt« und ebenso in »Die fremde Königin«. Diese Königin ist Adelheid von Burgund, Königin von Italien. Wenn man wie ich mit einer Gegend, dem Harzvorland nämlich, verwurzelt ist, in der die Ottonen nicht nur durch ihre Pfalzen und Kirchenbauten präsent sind, sondern in der das Ansehen der deutschen Kaiser und Könige bis heute in Ehren gehalten wird, indem man – zumindest noch in meiner Elterngeneration, in jeder Familie Söhne namens Heinrich und Otto, Wilhelm oder …

Evangelio

In des Ketzers Kielwasser … – Ausgerechnet ein Türke, ein Moslem, schreibt einen Lutherroman?, einen Roman über das Flaggschiff einer der großen deutschen Glaubensrichtungen, möchte man fragen … Aber ja, Christen schreiben ja auch über Mohammed und den Islam, warum also nicht ein Türke über eine christliche Religion? Vielleicht ergibt sich dadurch ja sogar eine neue, andere Sichtweise auf den Reformator, den wir alle doch quasi von klein auf so gut zu kennen glauben. Und Feridun Zaimoglu hat mit »Evangelio« den Versuch gewagt. Wir schreiben das Jahr 1521, genauer gesagt geht es um den Zeitraum vom 4.5.1521 bis 1.3.1522. Es ist das Jahr, in dem Martin Luther auf der Wartburg sitzt. Er steht unter Bann, gilt als Ketzer und wird verfolgt. Nun wurde er in Gewahrsam genommen, nicht wirklich gefangen, eher zu seinem Schutz unter falschem Namen, als Junker Jörg, in Sicherheit gebracht. Wobei es de facto wohl auf eins hinausläuft, denn Luther darf bzw. kann die Burg nur unter Bewachung verlassen. Und sein Bewacher, oder Beschützer, wie man es nimmt, der Landsknecht Burkhard, ist …

Licht

Wo Licht ist, da ist auch Schatten – Wenn wir heute das Licht anschalten, verschwenden wir kaum einen Gedanken daran, warum es hell wird. Die beiden Voraussetzungen sind uns selbstverständlich: Strom und eine Glühbirne {oder ihre modernen Verwandten}. Für beides hat Thomas Alva Edison einen entscheidenden Beitrag geleistet. Der Roman von Anthony McCarten wirft einen Blick auf den Menschen und stellt dabei die Beziehung zu einer anderen Persönlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt: J.P. Morgan, Bankier, Spekulant, Großkapitalist. Beide waren getrieben von dem Wunsch, mehr zu machen aus dem, was da war – nicht aus Gier oder Ruhmsucht, sondern aus einem fast manischen Vergnügen an den Möglichkeiten. Thomas Edison ist die Hauptfigur in McCartens Roman, als Leser folgt man den bedeutenden Momenten seiner Laufbahn auf verschiedenen Zeitebenen. Dabei ist der Roman keine Hofberichterstattung: Neben den genialen Erfindungen, die bis heute unseren Alltag prägen, stehen die Irrtümer. So schickt Edison einen jungen Erfinder weg, der ihm einen Prototyp des Reißverschlusses vorstellt, denn wer sollte schon Knöpfe ersetzen wollen? J.P. Morgan wollte – er trat …

Blutföhre

Am Anfang steht ein Baum – Oder besser, am Anfang wächst ein Baum. Und zwar nicht irgendein Baum, sondern die ›Blutföhre‹. Eine Föhre, die am Rande eines besonderen Platzes steht: dem Richtplatz nahe des Schlosses Friedberg im gleichnamigen Ort in Bayern. Nicht nur der Platz ist besonders, die Föhre selbst ist ungewöhnlich. Glaubt man der Sage, so wächst sie nur dann, sobald Unrecht geschieht. Das geschah offenbar in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Im Zentrum der Geschehnisse: Graf Ulrich von Mering und seine Verlobte Agnes von Hardenberg. Deren Glück bedrohte ein Raubritter, dem man edle Wurzeln nachsagte. Nach einem Mord ist nichts mehr wie es war. Denn der Mörder sollte, so glaubte man, ausgerechnet Ulrich sein … Als Viertklässlerin, so ist auf der Website der Autorin zu lesen, hörte sie die Sage von der ›Blutföhre‹ zum ersten Mal. Eine spannende und unheimliche Geschichte – nicht nur für die kindliche Phantasie. In »Blutföhre« erweckt die Autorin die Sage zu neuem Leben. Geschickt verknüpft sie in ihrem 500 Seiten starken Roman Fiktion und historische Fakten zu …

Der letzte Pfeil

Wie der Krieg zu den Menschen kam – Ein Roman aus der Frühzeit, heißt es auf dem Cover. Und tatsächlich, darin geht es um Ötzi, die Mumie aus dem Eis, den Mann vom Tisenjoch. In Italien, wo der Mann gefunden und ausgestellt wird, heißt er »La Mummia del Similaun« oder auch »Uomo venuto dal ghiaccio« {»Mann, der aus dem Eis kommt«}. Der Engländer liebt es knapper, dort heißt unser Ötzi schlicht »Iceman« oder, britisch schwarzhumorig: »Frozen Fritz«. Viele Spekulationen ranken sich um das Sterben dieses Frühzeitmenschen. Klar ist wohl, dass er ermordet wurde, erschossen oder erschlagen, davon zeugt die Pfeilspitze in seiner Schulter und die Schädelfrakturen. Für immer rätselhaft bleibt jedoch das Motiv seiner Tötung. Das bietet einen guten Stoff für die Phantasie eines Autors und so stellt Frank Schlösser in »Der letzte Pfeil« seine Theorie über die Geschehnisse vor, die in den Ötztaler Alpen vor rund 5300 Jahren stattfanden. Dazu lässt Frank Schlösser den Täter selbst sprechen. Der namenlose Mörder erzählt einem ihm Unbekannten seine Geschichte, aus seiner Sicht. Und – abgesehen vom Klappentext, …

Die Fremde

Die Erfindung der literarischen Doku-Fiktion – Stefan Hertmans Geschichte spielt im ausgehenden 11. Jahrhundert und wie so oft zeigt sich an dieser historischen Schilderung, wie aktuell auch derartig lange vergangene Geschehnisse sein können. Erschreckend wenig hat sich in all der Zeit in der Menschenwelt verändert. Noch immer sind Menschen auf der Flucht, wegen Verfolgung, Krieg, oder materieller Not. Der Hintergrund zu dem Roman »Die Fremde« ist Teil der Geschichte des Ortes, in dem Stefan Hertmans seit Jahren lebt, des Dorfes Monieux, mittelalterlich Moniou, am Fuße des Mont Ventoux im Süden Frankreichs. Es ist eine Geschichte, die Hertmans fasziniert und der er auf den Grund gehen will. Dabei lässt er den Leser teilhaben an seiner Herangehensweise, seiner Suche nach den Umständen, den historischen Fakten, aber auch dem Stoff, mit ein Autor die Lücken in der Überlieferung schließt. Eben dem Produkt der Recherche, das sich üblicherweise in einem Roman transformiert. Doch nicht in diesem Fall. Hier wird der Prozess zum Roman. Zunächst zu der überlieferten Geschichte, um die es Hertmans geht: David und Vigdis Adelais – die …