Zum Schluss ein Pferdekuss

Liebe über die Frontlinien hinweg

Gelesen & Notiert von T.M. Schurkus {hatte in ihrem Leben auch mal eine Pferdephase}

Buchbesprechung: »Zum Schluss ein Pferdekuss« – Die ungezügelten Liebesbriefe der Schlachtrösser Marengo & Copenhagen nach den Originalhufschriften aus den Jahren 1810-1815


1810: Napoleon erobert Europa. Ein Kontinent steht in Flammen. Die Welt taumelt am Abgrund. Und zwei Pferde kommen sich näher.
Die in diesem Buch erstmals versammelten Briefe dokumentieren den Schriftwechsel zwischen zwei der bedeutendsten Rösser der Weltgeschichte: dem aristokratischen Marengo {Besitzer: Napoleon} und dem draufgängerischen Copenhagen {Besitzer: der Duke of Wellington}.
Während Napoleon und Wellington Europa in Schutt und Asche legen, stehen Marengo und Copenhagen in fröhlichem Briefkontakt. Dabei tauschen sich die gelehrten Schlachtrösser nicht nur über die menschliche Natur, den Sinn des Daseins und nationale Eigenheiten aus, sondern entdecken schließlich auch ihre heftige Zuneigung dem jeweils anderen gegenüber – eine Zuneigung, die in die wahrscheinlich erste und einzige schwule Fernbeziehung zwischen zwei Pferden mündet.
Zum Schluss ein Pferdekuss ist hervorgegangen aus der erfolgreichen BBC-Radioserie Warhorses of Letters, die in Großbritannien Kultstatus erreicht hat – nicht zuletzt wegen des unvergleichlichen Sprechers von Marengo: Stephen Fry.
{Klappentext des Buches}

Liebe über die Frontlinien hinweg: Die Radioserie der BBC ist endlich in Deutschland als Buch erschienen. Zwei berühmte Pferde {n.B.: ihre Besitzer waren berühmt, die Pferde, wie so oft, nur die Steigbügelhalter der Geschichte. Kann das gehen?} halten den Menschen den Spiegel vor und philosophieren darüber, ob auch Pferde lange Gesichter machen können.
Vor wenigen Jahren sorgte ein Gerücht für Aufsehen in der Welt der Historiker: Die Gesprächsprotokolle des Papageis der preußischen Königin Luise aus seiner eigenen Feder seien aufgetaucht. Ein Forschungsstab aus Ornitho-Historikern bewertete den Fund, der aus 500 eng beschriebenen Seiten bestand. Allerdings wurden auf allen Seiten nur diese Sätze wiederholt: »Was für eine zauberhafte Stickerei! Blöder Napoleon! Blöder Napoleon!«
Man erklärte den Fund kurzerhand zu einer Fälschung, immerhin sollte die Gelderbewilligung zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses nicht gefährdet werden.

Pferdesmileys, SM-Praktiken & Huffäule

An der Authentizität der »Ungezügelten Liebesbriefe« kann jedoch kein Zweifel bestehen, ihre Fundorte sprechen für sich, wie etwa das Nationalmuseum für Sattel- und Zaumzeug oder der Dachboden von Brett Lee. Außerdem könnte kein Mensch den vielschichtigen Ausdruck fälschen, der aus dem 427 Buchstaben umfassenden Pferdealphabet entsteht {s. Fußnote S. 33}. Und damit wären wir bei der überzeugenden Stärke dieses Buches, das alle anderen Briefeditionen überstrahlt, denn mal ehrlich: olle Briefe von einem staubigen Dachboden holen, das kann jeder, aber die klugen Ergänzungen der Herausgeber erhellen, was oft im historischen Dunkel geblieben wäre {vgl. etwa Fußnote 33 »Nationen, die in Fragen der Komik weniger aufgeklärt sind als Frankreich: keine. Oh, vielleicht Peru.« Oder Fußnote 22: »Ja.«}

Maler: Jacques-Louis David

Aber zurück zu den Pferden: Marengo ist das Schlachtross von Napoleon, Kaiser der Franzosen, König und Beschützer von vielen Staaten, die schneller von der Landkarte verschwanden, als eben diese Karten gedruckt werden konnten. Copenhagen ist das Schlachtross des Herzogs von Wellington, Widersacher Napoleons {Zitat des Kaisers der Franzosen: »Man wird meine Gegner doch nur kennen, weil sie meinen Gegner waren.« Man sieht daran, warum das Ross seinen geliebten Reiter so oft zitiert.}
Beide Rösser waren also nach siegreichen Schlachten ihrer Kriegsparteien benannt und man ahnt den unausweichlichen Konflikt: Kann diese Liebe, die zart ist wie das frische Grün auf einer Pferdeweide im Frühling in solch einer turbulenten Zeit überleben? Das ist der Stoff aus dem große Geschichten sind {und deren Fortsetzung. Und deren Fortsetzung. Und deren Fortsetzungen aus ’ner anderen Perspektive}. Aber auch die unterschiedlichen Wesenszüge der beiden Rösser bieten Konfliktstoff: Copenhagen, das junge Rennpferd, ist ungestüm, auch in der Wortwahl und der Verwendung von Pferdesmileys. Seine Avancen sind eindeutiger {im Sinne des Jugendschutzes wurde der Austausch über SM-Praktiken, in denen Sporen und Scheuklappen eine Rolle spielen, in den unter schwulen Pferden üblichen Code umgewandelt}. Marengo, der Erfahrene, ist auch der Stolzere von beiden {er ist Franzose}, nimmt manchmal einen belehrenden Ton ein und steht sich oft selbst im Weg {was bei Pferden tragischere Folgen hat als bei Menschen, denn sie sind größer}. Wird es ein Happy End geben für diese Liebe, die so vielen Hindernissen ausgesetzt ist? Kriege, Vorurteile gegen schwule Pferde, Huffäule – eine Warnung und eine gute Neuigkeit zum Schluss: Das Buch endet mit einem mysteriösen Telegramm {die Technik der Pferde war der der Menschen immer voraus, s. Gullivers Reisen. Im Klippklapp der Pferdehufe hat das Telegrafieren bekanntlich seinen Ursprung, d.h. Pferde haben sich auf diese Weise schon lange Nachrichten zukommen lassen, bevor der Mensch dies mittels Elektrizität nachahmte}. Ein drittes Pferd taucht auf, dessen Absichten zutiefst unklar sind {die Herausgeber diskutieren die These, es könnte sich um das geheimnisumwitterte Pferd ›Track the Nipper‹ handeln}, ein echter ›Cliffhänger‹ also, bzw. ein ›Weidenhänger‹, da es sich auf einer grünen Wiese abspielt. Dort genießt Marengo seine Altersruhe, würde nicht noch wer wieder auftauchen: Napoleon, der zwischenzeitlich auf Elba eingestallt war.
Die Herausgeber machen uns Hoffnung, dass sie die üppigen Tantiemen für die Suche nach weiteren Briefen aufwenden werden wollen.

Skelett des Marengo
Bildquelle: Wikimedia Commons, Nick-D


Fazit
In dem Bemühen, Geschichte von unten zu schreiben, hat man allerlei obskure Zeitzeugen zu Wort kommen lassen: Küchenjungen, Laternenanzünder, Rattenfänger und Frauen. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum Pferde hier bisher übersehen wurden {man hat etwa keine Wortmeldungen der Pferde auf Downton Abbey zugelassen}. Die Herausgeber äußern die begründete Hoffnung, dass nun viele bisher verleugnete Zeugnisse von Tieren ihren Platz in der Geschichte finden werden. Ausdrücklich empfohlen etwa werden die Aufzeichnungen von Incitatus, dem Pferd Caligulas, mit dem Titel »Der Tag, an dem ich Gott wurde«.
Muss die Geschichte der napoleonischen Zeit also nach der Veröffentlichung der original Hufschriften neu geschrieben werden? Natürlich, aber das wird sie ja ohnehin dauernd.
Das einzige, was an dem vorliegenden Buch stört, ist der britische Humor. Dafür haben wir Deutschen keinerlei Verständnis. Ehrlich.
{Es ist aber davon auszugehen, dass die deutsche Übersetzung eine größere Seriosität besitzt. Bei den Stammbaum bezogenen Pferdenamen wurde durchweg darauf verzichtet. Was hat den besseren Klang? ›The Purpose of Life out of Any Old Mare‹ oder ›Der Sinn des Lebens hervorgebracht von irgendeiner alten Mähre‹? – das Thema des Kinderwunsches schwuler Pferde ist zu heikel, um darüber zu urteilen.
Wir wissen nicht, ob die Originalton Radioaufnahmen zu empfehlen sind, die BBC-Lachkonserven sollen bekanntlich schon Radios zum Explodieren gebracht haben, wir raten daher zuvor zur Abstumpfung durch US Sitcoms.}

Mein Lieblingssatz {dem Anhang entnommen, in dem wir Copenhagens schwierigen Weg zum Coming Out nachlesen können, dazu seine Mutter}: »›Á la King‹!! Heißt das etwa, Du hast dich in ein französisches Pferd verliebt? Ich wusste es! Ich wünschte, Du wärst schwul!
Entsetzt,
Mum«.

Zum Weiterlesen:
Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. C.H. Beck Verlag, 29,95 Euro

Die Herausgeber

Robert Hudson
Foto: privat

Robert Hudson, Jahrgang 1973, ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Musicals. Er hat außerdem als Journalist gearbeitet und veranstaltet an seinem Heimatort Comedy-Veranstaltungen. Robert Hudson lebt in Kilburn, London.

Marie Phillips
Foto: © Niall McDiarmid

Marie Phillips wurde 1976 in London geboren. Nach Stationen als Fernsehjournalistin und Buchhändlerin hatte sie mit ihrem Debütroman Götter ohne Manieren {Goldmann, 2010} ihren Durchbruch als Romanautorin. Für ihren zweiten Roman wurde sie 2014 für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert.

Die Übersetzerin

Britt Somann studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Hamburg und London, ist Lektorin für internationale Literatur und hat Ben Brooks’ Lolito {Atrium, 2015} ins Deutsche übertragen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Erschienen ist das Buch im Atrium Verlag.