Buchbesprechung: Stefan Hertmans – Die Fremde

Histo Journal Besprechung: Stefan Hertmans »Die Fremde«

Gelesen & Notiert von Ilka Stitz

Cover Die Fremde

Inhalt
Als Stefan Hertmans erfährt, dass seine zweite Heimat, der Ort Monieux in Frankreich, vor tausend Jahren Schauplatz eines Pogroms durch die Kreuzritter war, begibt er sich auf Spurensuche. Unter den Überlebenden soll eine junge Frau christlicher Herkunft gewesen sein. Diese historisch verbürgte Figur lässt ihn nicht mehr los, er tastet sich erzählend an ihr Leben heran. Vigdis nennt er die Frau, die für die Liebe zum Sohn des Rabbi ihre Existenz aufs Spiel setzt und zu Hamutal wird, die alles verliert und ganz allein nach Jerusalem aufbricht. Mit seiner grandiosen literarischen Rekonstruktion dieser Geschichte von Liebe, Gewalt und religiöser Verfolgung ist Hertmans ein erschreckend gegenwärtiger Roman gelungen.

Weitere Informationen zum Autor sowie eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Hanser Literaturverlages.

Die Erfindung der literarischen Doku-Fiktion

Stefan Hertmans Geschichte spielt im ausgehenden 11. Jahrhundert und wie so oft zeigt sich an dieser historischen Schilderung, wie aktuell auch derartig lange vergangene Geschehnisse sein können. Erschreckend wenig hat sich in all der Zeit in der Menschenwelt verändert. Noch immer sind Menschen auf der Flucht, wegen Verfolgung, Krieg, oder materieller Not.

Der Hintergrund zu dem Roman »Die Fremde« ist Teil der Geschichte des Ortes, in dem Stefan Hertmans seit Jahren lebt, des Dorfes Monieux, mittelalterlich Moniou, am Fuße des Mont Ventoux im Süden Frankreichs. Es ist eine Geschichte, die Hertmans fasziniert und der er auf den Grund gehen will. Dabei lässt er den Leser teilhaben an seiner Herangehensweise, seiner Suche nach den Umständen, den historischen Fakten, aber auch dem Stoff, mit ein Autor die Lücken in der Überlieferung schließt. Eben dem Produkt der Recherche, das sich üblicherweise in einem Roman transformiert. Doch nicht in diesem Fall. Hier wird der Prozess zum Roman.

Zunächst zu der überlieferten Geschichte, um die es Hertmans geht: David und Vigdis Adelais – die später Hamutal genannt werden wird – müssen fliehen. In ihrer Heimatstadt Rouen hat sich die normannische Grafentochter trotz aller gesellschaftlicher Hürden, die junge Mädchen ihres Standes in ihrer Freiheit beschränken, in einen jungen jüdischen Gelehrten verliebt, in den Rabbinersohn David Todros. Ihr Vater, der schon andere Pläne für seine Tochter hat, wäre niemals mit ihrer Wahl einverstanden. Vigdis entscheidet sich dennoch für David, und damit für den jüdischen Glauben – und für die Flucht. Fortan ist sie eine Wanderin zwischen den Religionen, nicht mehr Christin, nicht wirklich Jüdin. Und letzteres sieht man ihr obendrein an, dieser blonden, blauäugigen Normannin. Je nach dem ist das von Nachteil, oder von Nutzen.

Zunächst sind es die Ritter ihres Vaters, vor denen sie fliehen müssen. Von Rouen geht es nach Narbonne. Es ist eine lange Strecke, von der Normandie bis nach Südfrankreich. Der Weg ist voller Gefahren. Die Beiden werden betrogen, verlieren ihre Habe, sind immer wieder auf Hilfe angewiesen. Schließlich überfällt sie eine Bande Strauchdiebe, David wird niedergeschlagen, Vigdis vergewaltigt, David wird zum Mörder. Traumatisiert wandern sie weiter, zu Davids Eltern nach Narbonne, die sie willkommen heißen. Dort finden sie Ruhe, Leib und Seele können genesen.
Nach einigen Monaten der Vorbereitungszeit tritt Vigdis endlich zum Judentum über. Damit legt sie legt ihren christlichen Namen ab und heißt fortan Sarah. Ihr Mann nennt sie zärtlich Hamutal, Morgentau.

Mit ganzem Herzen wird sie indes so schnell keine Jüdin. Das Christentum und seine Rituale war in ihrer Kindheit allgegenwärtig, ein treuer Begleiter und Tröster in der Not. Auch nach Monaten noch sehnt sie sich nach den Heiligen als Fürsprecher, nach dem Trost des christlichen Gebets, nach einer Kirche. Zu unvertraut sind noch die jüdischen Rituale und Gebete für sie.

Sie ist hochschwanger und schon müssen sie wieder fliehen. Davids Vater schickt sie in ein kleines Dorf im Südosten Frankreichs, Moniou, im Schatten des Mons Ventoux. Dort bringt sie ihr erstes Kind zur Welt, der Junge erhält den Namen Yaakov.

Hier findet sie für einige Jahre Ruhe, lebt sich ein, in dieses Leben, das ihr völlig fremd ist. Harte Arbeit, einfache Verhältnisse und fremde Rituale, in die sie sich erst einfinden muss. Hin und wieder tauchen normannische Ritter im Dorf auf, die alte Angst vor den Verfolgern ihres Vaters flammt auf, doch niemand verrät sie.

Endlich fühlt sich Hamutal angekommen, das fremde Leben wird vertrauter, die Liebe ihrer Familie gibt ihr Heimat, sie findet Freunde.

Doch lange währt auch dieser Frieden nicht. Der Papst Urban II. ruft zum Kreuzzug. Eine nie gesehene Menschenmenge formiert sich zu einem kilometerlangen Zug. Wie ein Heuschreckenschwarm fällt sie über Städte und Dörfer her, alles vernichtend wo sie sich niederlässt. Auch das Dorf Moniou kann den Bedürfnissen der einfallenden Menschenmassen nicht gerecht werden. So richtet sich deren Ungeduld, aufgestauter Hass, Hunger und Entbehrung des schon jetzt strapaziösen Marsches zunächst gegen die Juden, dann auch gegen die christliche Bevölkerung, die ihnen vermeintlich Unterkunft und Verpflegung vorenthält. Ein Blutbad sondergleichen ist die Folge. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Schwache, alle werden niedergemetzelt, das Dorf geht in Flammen auf. Nur wenige können sich retten, darunter auch Hamutal mit ihrem jüngsten Kind. Ihr ältester Sohn und ihre Tochter werden von den Kreuzfahrern entführt. Ihren Mann findet sie tot auf der Gasse liegend.

Wie betäubt macht Hamutal sich erneut auf den Weg, sie sucht ihre Kinder. Wenn sie überhaupt überlebt haben, würde sie sie wahrscheinlich in Jerusalem finden.

Der hier skizzierte inhaltliche Überblick verdeutlicht schon, worum es in diesem Buch geht: Menschen auf der Flucht, und um damit verbundene Traumata, durch die Erlebnisse zuvor, während und nach der Flucht.

Das Buch »Die Fremde« ist ein Roman, heißt es vorn auf dem Cover. Das ist irreführend. Tatsächlich kommt die Beschreibung der Rückseite des Einbands dem Inhalt näher, wo es heißt: »… entwickelt Hertmans in seiner literarischen Recherche eine ganze lebendige Welt …«

Somit ist es kein Roman, denn Hertmans mischt in seinem Buch Elemente eines historischen Romans mit dem Erzählen über die {erzählte} Geschichte und über Geschichte ganz allgemein. Das erinnert an die Doku-Fiktion Sendungen, wie sie im Fernsehen gelegentlich zu sehen sind: Die Suche nach Fakten, die Geschichte einer dokumentierten {in diesem Fall} oder auch einer exemplarischen Persönlichkeit, deren Visualisierung, bereichert mit Fakten zur Zeit. Dies alles leistet Hertmans mit Worten. Der Leser begleitet Hamutal auf ihrer Reise, und gleichzeitig Hertmans, der ihrer Spur folgt. Die Phantasie des Autors, die Erlebnisse der Protagonisten, das Zeitgeschehen vermischen sich, das macht es dem Leser mitunter schwer zu folgen. »Am Fenster sitzend schaue ich über das Tal und sehe, wie sich von weitem zwei Menschen nähern. Vermutlich sind sie den Saint-Hubert herabgestiegen, von dem aus man sowohl den Mont Ventoux als auch das Tal von Monieux sehen kann.« {S. 13} Hier ist es der Autor selbst, der seine Protagonisten herankommen sieht. Der Leser wird damit Zeuge, wie sich die Geschichte vor dem inneren Auge des Schriftstellers Hertmans formt. Doch erst im zweiten Kapitel bekommt der Leser Gewissheit über die wirklichen Verhältnisse, denn: »In Wahrheit ist es der Rabbi des Dorfes, Joshua Obadja, der an dem Frühjahrsmorgen des Jahres 1091 von der Synagoge aus die Flüchtlinge den Hügel herabkommen sieht.« {S. 20}

Die Historie, dokumentiert und archäologisch nachgewiesen, vermutet, logisch rekonstruiert oder komplett erfunden, alles vermischt sich. Letztlich ist es ja nur ein einziges Dokument, das Auskunft gibt über die Geschehnisse. Der leichte Silberblick der jugendlichen Vigdis entspringt der Phantasie des Autors. So oder so ähnlich hätte es sein können, erfährt der Leser. Aber er lernt auch das, was sonst noch geschah, die große Geschichte, die jetzt, oder später, Einfluss auf das Leben jedes einzelnen nehmen wird, oder immerhin hätte nehmen können. Und zu guter Letzt hat er Teil an der Recherchereise des Autors.

Vielleicht wird schon jetzt deutlich, was das vertrackte an der Geschichte ist … Die Darstellung von Vigdis Erlebnissen auf der Flucht wechseln ab mit den aktuellen Eindrücken des Autors, der ihrer vermeintlichen Spur folgt, dem Weg eben, den Vigdis und David allen wägbaren Einflüssen gemäß, hätten nehmen müssen. Hertmans besichtigt die Orte, die auf der Route von Vigdis und David liegen, sucht Gebäude auf, die sie gesehen haben könnten, schwelgt in den Landschaften, die er durchfährt. Bei all den gesammelten Eindrücken ist natürlich stets der Wandel von Landschaften, Flüssen und Städten im Laufe von rund tausend Jahren zu berücksichtigen. »Außerdem will ich mir klarmachen, was nach einem Jahrtausend noch übrig sein könnte. Nicht viel – abgesehen von der Landschaft. Ich kann mir ihre Flucht nur schwer vorstellen, obwohl durchaus historische Quellen vorhanden sind, die mir helfen. Ich müsste nur alles aufs Wesentliche zurückführen, streichen, eliminieren: die Brücke, die Autobahn, die Gebäude, die Stützmäuerchen bei der Böschung, den Lärm, nahezu jede menschliche Anwesenheit. Alles vorsichtig entfernen, wie ein Archäologie, und dann auf die wüsten Gründe stoßen.« {S. 73}

Diese hybride Erzählweise, zumal in einer teilweise skizzenhaft reduzierten Sprache, verhindert, dass der Leser in der Geschichte versinkt, mit den Protagonisten liebt und leidet. Alles erscheint aus der historischen Distanz betrachtet, analysierend, abwägend, sachlich und stets beschreibend. Hertmans erzählt dem Leser über die Geschehnisse, er analysiert sie, teilweise bis ins Detail, aber er zeigt sie nicht im Sinne des »Zeigen, nicht erzählen«. So bleiben selbst die schrecklichen Geschehnisse der Pogromnacht eher abstrakt. Sie berühren den Verstand, aber nicht das Herz. »Als der Morgen graut, kehrt Ruhe ein. Überall liegen Leichen, in der Synagoge schwelt noch das Feuer, das jüdische Viertel ist ein einziger Schutthaufen, und zwischen den durcheinander liegenden, entstellten Körpern schnüffeln Hunde. Erst jetzt erwacht Hamutal aus ihrer Schreckstarre. Sie denkt an ihre Kinder, an David, ihr Herz beginnt zu jagen, sie hebt ihr schlafendes Kind auf, presst es, in ein großes Tuch gewickelt, an sich.« {S. 160} Vor allem, wenn noch Hinweise hinzukommen, die zwar interessant sind, aber mit der Geschichte, ja nicht einmal mit der Zeit in der sie spielt, etwas zu tun haben. »Das Schiff verlässt den Hafen, vorbei an den Felsen die später Chateau d’If genannt werden.« {S. 192}

Fazit

Das Buch ist weder ein Sachbuch noch ein Roman. Es ist das Protokoll einer Recherchereise, sogar gelegentlich nicht mehr als Stichworte, Notizen. Eingefügte literarische Kostproben werfen Schlaglichter auf die Geschehnisse. Hertmans hat damit eine Art »literarische Doku-Fiktion« erfunden, die mich persönlich als Leserin nicht zu fesseln vermochte. Die Geschichte entfaltet weder die Faszination eines profunden Sachbuchs noch das Entrückende eines historischen Romans. Dass das an sich durchaus spannende Konzept bei der Lektüre letztlich nicht überzeugt, mag außer an der in allen Teilen sparsamen Sprache auch daran liegen, dass das Thema der »Flucht« am Ende doch sehr stereotyp wird. Dreimal tritt Hamutal zu einer Reise an, die jeweils nach ähnlichen Prinzipien abläuft, in stets sich wandelnden Landschaften versteht sich. Die Protagonisten kommen nicht zur Ruhe, der Leser ebensowenig, denn kaum ist die Heldin irgendwo angekommen, geht für den Leser die Reise an der Seite des Autors an anderem Ort weiter, weil der noch nicht bei dem Aufenthaltsort seiner Heldin angekommen ist – aus welchen Gründen auch immer. Oder aber weil er ihr schon vorausgeeilt ist.

Bei einem Buch, dass sich dem Thema »Flucht« widmet, die längs und quer durch Frankreich führt, und darüberhinaus weiter bis nach Afrika, hätte ich mir eine Karte gewünscht. Damit hätte der Leser dem Paar wenigstens geografisch folgen können. Man hätte eine Möglichkeit gehabt, die Strapazen einzuschätzen und den Überblick behalten. Stattdessen schmückt das Frontispiz immerhin die Abbildung einer Burgruine.

Das Buch leistet allerdings etwas anderes, was Leser von historischen Romanen mitunter sehr interessiert: Es zeigt einen Prozess des Entstehens eines Romans. Einen {unvollendeten} Prozess der Romanwerdung. Wen dieser Prozess interessiert, wird zum einen sehr Bewegendes über eine verfolgte Frau namens Hamutal, deren Existenz belegt ist, erfahren. Darüberhinaus lernt die Leserin, der Leser noch Einzelheiten über das Judentum, über Kreuzzüge, Kirchenväter und noch vieles mehr kennen. Die Gegend um den Mont Ventoux – bereits in römischer Zeit eine geschichtsträchtige Region – wird durch die von Hertmans zusammengetragenen Fakten und Eindrücke um ein weiteres berührendes Ereignis bereichert.

Der Autor

Autor
Foto: ©Michiel Hendryckx

Stefan Hertmans, geboren 1951, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der flämischen Gemeinschaft für Prosa. Für Der Himmel meines Großvaters erhielt er 2014 den AKO Literatuurprijs und De Gouden Uil.