Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod

Anziehungskräfte

Buchbesprechung: Günter de Bruyn »Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod«.

Gelesen & Notiert von T.M. Schurkus


Günter de Bruyn
»Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod«

Inhalt
Berlin 1816: Der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg begegnet im Dämmerlicht einer Arztpraxis einer jungen Frau, an der magnetische Heilverfahren ausprobiert werden und verliebt sich in sie. {aus dem Klappentext des Verlags}

Leseprobe
Website des Verlags

Alles ist wahr – und doch weiß man nichts genaues. Auf diese Formel lassen sich manche historische Ereignisse bringen, über die zu ihrer jeweiligen Zeit – meist aus Gründen der Schicklichkeit – nicht gesprochen werden durfte. Und über eben jene Vorgänge brodelt dann die Gerüchteküche, deren Reste man auch 200 Jahre später noch betrachten kann. Das hat Günter de Bruyn, Träger vieler namhafter Literaturpreise, in seinem aktuellen Buch getan. »Eine Betrachtung« wäre dann auch ein angemessener Untertitel, denn trotz eines Anhangs mit dem Nachweis der Zitate, eines Namenregisters, Zeittafel usw. ist »Die Somnambule« kein Sachbuch, denn es erhebt nicht den Anspruch, den Wissensstand im Bezug auf eine Sache aufzuarbeiten; es widmet sich vielmehr der Fußnote in einem Lebensbild, wobei, wie so oft, die weniger bekannte Frau, Friederike Hähnel, die Fußnote im Leben des bekannteren Mannes, hier: Fürst Karl August von Hardenberg, war.

Hardenberg {1750-1822} war Preußens Außenminister gewesen in einer für das Königreich besonders schweren Zeit: Seit 1805 war Napoleon Kaiser in Frankreich und verschiedene Koalitionen konnten ihn auf dem Schlachtfeld nicht entmachten. 1806 führte auch Preußen gegen Frankreich Krieg und unterlag vollständig. Das «phlegmatische Volk« wie Napoleon die Preußen bezeichnete, begann sich zu nationalisieren. Staat und Militär wurden umgestaltet. Hardenberg, seit 1810 Staatskanzler, sah sich auf der Seite der Reformer und machte sich bis zu seinem Lebensende stark für eine Verfassung – vergeblich.
In den Politiker Hardenberg gibt das Buch nur einen kurzen Einblick, denn für die Geschichte, die es zu erzählen gibt, spielte seine Funktion im Staat nur eine untergeordnete Rolle – wenn sein Verhältnis zu »der Hähnel« auch seine Gegner stärkte. Als Hardenberg Friederike begegnete war er 66 Jahre alt und sie Anfang 20. Er lernte sie kennen als Patientin einer neuen Modemedizin: Des animalischen Magnetismus.

Exkurs »Mesmerismus«

Franz Anton Mesmer

Begründet wurde der animalische Magnetismus oder Mesmerismus durch den österreichischen Arzt Friedrich Anton {Franz} Mesmer {1734-1815}. Er bezog sich auf die Erkenntnis Newtons, dass zwischen allen physischen Körpern eine Anziehungskraft herrsche und verband sie mit den Theorien zur Elektrizität, die Ende des 18. Jahrhunderts im Umlauf waren. Seiner Theorie zufolge, werden alle Zustände des Menschen – also auch die Krankheiten – durch Bewegungen des Fluidums oder des Lebensfeuers im menschlichen Organismus ausgelöst. Insbesondere das Stocken des Fluidums gilt es zu beheben, dazu kommen Magneten zum Einsatz. De Bruyn beschreibt in seinem Buch sehr anschaulich eine solche magnetische Heilkammer, in der die Patienten für einige Zeit zu verweilen hatten. Nicht selten verfielen sie dabei in einen somnambulen Zustand, also eine Art Trance. Solche Sitzungen wurden zu Vorläufern der Hypnose.
Mesmers Theorien und Heilmethoden wurden sowohl in Wien wie auch in Paris von akademischen Gremien untersucht und als Betrug verworfen. Das tat seinem Erfolg jedoch keinen Abbruch. Marie Antoinette etwa suchte seinen Rat, zahlreiche Zeitgenossen wie Friedrich Schlegel oder Heinrich von Kleist setzten sich mit Mesmers Methoden auseinander oder ließen sich von ihnen inspirieren.
Vor allem die Romantik mit ihrer Reaktion auf die nüchterne Aufklärung verhalf dem Mesmerismus zur Popularität. Mesmer behauptete inzwischen, allein durch Handauflegen jene heilsamen magnetischen Kräfte übertragen zu können, die selbst bei unklaren Krankheitsbildern zur Gesundung führten. Seit 1787 erschien das Archiv für Magnetismus und Somnambulismus. Freud ließ sich später in der Entwicklung der Heilverfahren durch Hypnose von Mesmer beeinflussen.
In der modernen Medizin ist die Arbeit mit Magnetfeldern zur abbildenden Diagnose z.B. im Kernspintomografen bekannt, als Heilverfahren ist der Einsatz von Magneten jedoch nach wie vor umstritten.

Kein Kind von Traurigkeit

In solch einem magnetischen Behandlungsraum sollen sich Hardenberg und Friederike das erste Mal begegnet sein – wie auch später bei Freud wurden auch bei Mesmer vor allem junge Frauen als Untersuchungsobjekte herangezogen.
Doch nicht nur der Altersunterschied zwischen Hardenberg und Friederike sorgte fortan für Klatsch in den Salons, sondern der Umstand, dass sie nicht adlig war, aus kleinen Verhältnissen stammte und natürlich war Hardenberg verheiratet. Um seine Gespielin ständig um sich haben zu können, traf er ein zweifelhaftes Arrangement: Friederike wurde Gesellschaftsdame seiner Ehefrau Charlotte – sie war seine dritte Ehefrau und immerhin auch gut 20 Jahre jünger als er. Man kann daran sehen, dass Hardenberg kein Kind von Traurigkeit war und auch nicht dem Klischee des {sitten}strengen Preußen entsprach.

Hardenberg

Das Buch ist um einige schwarz-weiß Abbildungen bereichert, darunter eine Darstellung Hardenbergs von Tischbein um 1810 und man kann dem Gemälde durchaus entnehmen, warum der Staatskanzler bei Frauen einen gewissen Erfolg hatte: »Er war strahlend schön in der Jugend und strahlend schön bis zum höchsten Alter …«, wird eine Dame aus seinem Umfeld zitiert. Seine libidinöse Wanderlust schildert de Bruyn eher nüchtern und statt zu werten, lässt er Zeitgenossen zu Wort kommen. Einige von ihnen waren selbst schillernde Gestalten, so wie etwa der Fürst von Pückler-Muskau, der sich für seine Leidenschaft – die Gartenbaukunst – ruiniert hatte. Er heiratete die Tochter Hardenbergs aus erster Ehe {diese Tochter war ebenfalls geschieden}, erklärtermaßen, weil er ihr Geld brauchte. Eben deswegen setzte er alles daran, seinen Schwiegervater günstig zu stimmen. Er wurde zum Vermittler zwischen den zerstrittenen Eheleuten Hardenberg. Um den Schein zu wahren, wurde Friederike Hähnel schließlich verheiratet an einen Herrn von Kimsky »von dem man sonst aber nichts, nicht einmal den Vornamen weiß« {59}, wie de Bruyn erklärt.
Von da an war von Friederike als »der Kimsky« die Rede {Hardenberg dagegen nannte sie »mein Fritzchen«} und man unterstellte ihr, vor allem hinter Hardenbergs Vermögen her zu sein. Als Hardenberg auf einer Italienreise einen Herzanfall erlag, blieb Friederike jedenfalls wohlhabend zurück und noch einmal brodelte die Gerüchteküche: Dass sie den Kanzler mit Eifersuchtsszenen in den Tod getrieben habe; dass sie ihr Wissen um Staatsangelegenheiten genutzt habe, um den preußischen König zu erpressen etc. Und schon damals gab das Stoff für Romane ab: Luise Mühlbach machte Friederike Hähnel/ Kimsky zu einer der Figuren in ihrem Buch »Napoleon und der Wiener Kongress«.

Quellensammlung

Es ist also viel über »die Kimsky« geschrieben worden, meist von Chronisten die ihr aus moralischen oder persönlichen Gründen nicht wohlgesonnen waren. Von ihr selbst sind kaum Zeugnisse bekannt. De Bruyn versucht nicht, eine Art historischer Gerechtigkeit herzustellen oder gar »das Ungeheuer von einer Frau«, wie sie geschmäht wurde, zu rehabilitieren. Er trägt Quellen zusammen und kommentiert deren Glaubwürdigkeit. Man folgt seinen Schilderungen mit Interesse, hier und da auch mit Kopfschütteln. Der Rosenkrieg, der sich in dem Dreiecksverhältnis Hardenberg – Charlotte – Friederike abgespielt haben muss, bleibt aber der Phantasie der Leser überlassen.

Fazit

Eine obskure Wissenschaft, eine skandalöse Affäre, prominente Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts – was nach einem prallen Stoff klingt, hat De Bruyn in eine ausführliche Fußnote verwandelt. Wer Vorkenntnisse über die Epoche und ihre Vertreter hat, wird dem mehr abgewinnen können, als Leser, denen diese Zeit fremd ist. Die Figuren bleiben stets historische Objekte, de Bruyn enthält sich der Mutmaßungen über Gefühle oder Intentionen und konzentriert sich auf die Quellenarbeit.
Für Freunde des frühen 19. Jahrhunderts eine interessante Ergänzung.

Der Autor

Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebt heute im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays ›Als Poesie gut‹ und ›Die Zeit der schweren Not‹, die autobiographischen Bände ›Zwischenbilanz‹ und ›Vierzig Jahre‹ sowie die Romane ›Buridans Esel‹ und ›Neue Herrlichkeit‹.

Zuletzt erschien von Günter de Bruyn:
»Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815.« {Fischer Verlag}

Website

Weitere Fotos zu Mesmer finden sich auf der Website des BR zum 200. Todestages von Franz Anton Mesmer {externer Link}.