Die Kinder von Nebra

Histo Journal Besprechung: Ulf Schiewe – »Die Kinder von Nebra«

Gelesen & Notiert von Ilka Stitz

cover kinder von nebra

Inhalt
Das Mysterium der Himmelsscheibe, eine Hochkultur im Herzen Europas und der immerwährende Kampf zwischen Gut und Böse – ein großer historischer Roman mit unvergesslichen Figuren
Nebra vor 4000 Jahren: Lange haben sich die Menschen der Willkür des mächtigen Fürsten Orkon gebeugt, der das Volk quält und ausbeutet, sich nimmt, wonach immer es ihn gelüstet. Jetzt endlich regt sich Widerstand. Die junge Priesterin Rana will Orkons dunkle Herrschaft brechen und die Menschen befreien. Das Werk ihres Vaters soll ihr dabei helfen: eine bronzene Scheibe, die den Sternenhimmel zeigt und eine geheime Botschaft der Götter enthält. Sie steht für die Göttin des Lichts, die dem Hass Liebe entgegensetzt. Doch Ranas Weg ist gefährlich, viel steht auf dem Spiel. Auch das Leben derjenigen, die ihr am liebsten sind …
Auf einem Hügel bei Nebra stießen Sondengänger Ende der 1990er-Jahre auf eine bronzene Scheibe. Sie zeigt Mond und Sterne, gilt heute als die erste konkrete Himmelsdarstellung der Menschheitsgeschichte. Ein Sensationsfund, den die Finder zunächst an Hehler verscherbelten. Erst 2002 kam die Himmelsscheibe in die kundigen Hände von Archäologen. Seither wird sie erforscht – und hat das Bild unserer Vorfahren geändert. Ulf Schiewe lässt ihre unbekannte Kultur auferstehen und spinnt um sie einen großen, epischen Roman.

Bastei Lübbe
Hardcover
Historische Romane
619 Seiten
Preis: 24,00 Euro

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Lübbe Verlags.

»Zeitreise in die ferne Bronzezeit«

Wir schreiben das Jahr 1999. Zwei Raubgräber sind auf dem Mittelberg in Wangen in Sachsen-Anhalt unterwegs. Als ihre Metalldetektoren anschlagen, können sie noch nicht ahnen, welchen Fund sie zu Tage fördern sollten: außer zwei reich verzierten Schwertern, zwei Beilen, den Resten zweier Armspiralen und einem Meißel kam eine Bronzescheibe ans Licht, die heute als Himmelsscheibe von Nebra jedem historisch Interessierten ein Begriff ist. Allerdings sollte es noch drei Jahre dauern, bis der Schatz nach weiteren Stationen im Jahr 2002 in einer fingierten Ankaufssituation durch den Landesarchäologen Dr. Harald Meller und unter Einsatz der Polizei in einem Baseler Hotel sichergestellt werden konnten.
Seitdem ist die Himmelsscheibe mit ihren Beifunden in der Dauerausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale zu sehen. Mit ihrer Erforschung ermöglicht vor allem die Himmelsscheibe den Archäologen einen tieferen Einblick in die europäische Bronzezeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit zeigt sie eine astronomische Konstellation, die es ermöglicht, die Sonnenwenden zu berechnen. Eine Kunst, die für eine Gesellschaft von Ackerbauern und Viehzüchtern von großer Bedeutung ist, lässt sich doch mit ihrer Hilfe zum Beispiel der Zeitpunkt der Aussaat exakt bestimmen.
Wir schreiben das Jahr 1830 vor der Zeitenwende. In Mesopotamien sind Reiche entstanden und untergegangen. Seit knapp tausend Jahren steht am Nil die Cheopspyramide, Babylon hatte hundert Jahre zuvor seine Blütezeit, in hundert Jahren wird Hammurabi seine Gesetzestafeln in Stein meißeln lassen, fünfhundert Jahre später wird der Zorn des Achilles Troja erschüttern.
In der Gegend um Nebra sind wir weit entfernt von diesen historischen Ereignissen. Ulf Schiewe nimmt uns mit in eine Zeit, von der wir uns nur durch archäologische Funde ein Bild machen können, denn die Schrift ist in diesem Teil der Welt noch unbekannt. In seinem Roman füllt Schiewe die Lücken und gibt dem Leser einen Eindruck der Zeit und die Umstände der Entstehung der Bronzescheibe von Nebra, und welchem Zweck sie gedient haben könnte.

Auf der Spur der Himmelsscheibe …

Hauptfigur der »Kinder von Nebra« ist Rana, die Tochter von Utrik, dem Schmied und Urheber der Himmelsscheibe. Ihre Mutter ist Herdis, eine angesehene Priesterin der Destarte. Die Göttin der Fruchtbarkeit wird überall im Land verehrt, entsprechendes Ansehen genießt ihre Vertreterin. Größter Wunsch ihrer Mutter ist, dass Rana ihre Nachfolge antritt. Doch Rana zweifelt, ob sie der Verantwortung gewachsen ist. Um über ihre Zukunft nachzudenken, zieht sie sich an ihren Lieblingsort zurück, in den Wald. Um ein Haar fällt sie dort dem Fürstensohn Arrak in die Hände. Ausgerechnet zwei Alben, Waldmenschen, um deren Volk sich Schauermärchen ranken, retten sie vor einer Vergewaltigung. Sich Arrak zum Feind zu machen, ist gefährlich. Denn sein Vater Orkon vom Clan der Helminger ist das Oberhaupt aller Clans des Volkes der Ruotinger, dem auch der Clan von Runa und ihrer Familie angehört. Orkon führt eine Schreckensherrschaft, sein Gott ist Hador, der Gott der Unterwelt und des Totenreichs, der durch Menschenopfer gnädig gestimmt werden muss. So schwebt über allen Ruotinger die Furcht, als nächstes Opfer für den Gott auserwählt zu werden. Und jeder unliebsame Gegner ist für diesen Zweck willkommen, auch Rana?
Doch allmählich regt sich im Volk Widerstand gegen die Willkür und Grausamkeit der Herrschenden. Es ist die Zeit des Umbruchs innerhalb einer Gesellschaft, die Ulf Schiewe als Thema seines Romans wählt und er führt vor Augen, welche Rolle die Himmelsscheibe dabei eingenommen haben könnte. In »Die Kinder von Nebra« ist sie die Vermittlerin des Wissens der Hochkulturen des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds – heute auf dem Gebiet von Türkei, Syrien, Irak und Iran und Mitteleuropa. In Mesopotamien entstanden hochentwickelte Technologien, im 3. Jahrtausend waren die Kenntnisse über Astronomie bereits erstaunlich, bereits ab dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeit entstanden sogar die ersten allgemein anerkannten Schriftsysteme der Welt, übrigens zum Zweck der Buchführung.
Ranas Vater reiste in seiner Jugend in diese Gegend, und brachte außer Spezialwissen zur Schmiedekunst auch astronomische Erkenntnisse in seine Heimat. Letztere manifestierte er in einer Bronzescheibe, die er insgeheim anfertigt. Er weiß um die Bedeutung und die Macht, die mit dem darauf niedergelegten Wissen einher geht. Erst recht, wenn sie in die Hände solch skrupelloser Herrscher wie Orkon und seinem Sohn fiele.

Facettenreich erzählt

Ulf Schiewe erzählt eine facettenreiche Geschichte um die Ausübung von Macht, im Bösen wie im Guten. Dabei hat er die Lebensumstände der Bronzezeit ausgezeichnet recherchiert. Er selbst sagt in seinem ausführlichen Nachwort, dass er für keinen Roman so viel recherchiert hat wie für diesen.
Als Basis für die Grundlage seines Romans wählt Ulf Schiewe offenbar die Publikationen des Landesarchäologen Harald Meller, der in der europäischen Bronzezeit von einer staatenähnlichen Gesellschaft ausgeht. Seine Theorie ist in Archäologenkreisen zwar sehr umstritten, da die Belege dafür dürftig sind, aber für einen Roman bietet diese Ausgangslage natürlich gutes Potenzial. Auf der Basis dieser Grundlage entfaltet Ulf Schiewe sein Panorama einer bronzezeitlichen Gesellschaft, in der die etablierte Gesellschaft schon längst Landwirtschaft betreibt, aber – im Volk der Alben – die Jäger und Sammler als angestammte Einwohner noch vorhanden, aber nur noch als Randgruppe auftreten. Bereits im Neolithikum – in Mitteleuropa um 5000 v.u.Z. – verdrängte die Gesellschaft der Ackerbauern und Viehzüchter allmählich die der Jäger und Sammler. Wie Funde belegen, haben sie lange nebeneinander gelebt, offenbar ohne sich zu vermischen. Dies zeigte die Untersuchung des Skeletts des ›Mädchen aus der Blätterhöhle‹. Sie lebte um 3600 v.u.Z. als eine Vertreterin der Jäger und Sammler zwar gleichzeitig mit Ackerbauern lebte, ihr Genpool zeigte jedoch keinerlei Spuren auf eine Verbindung zu den Ackerbauern. Diese Trennung erklärt sich auch durch die völlig unterschiedlichen Lebensräume und die noch dünne Besiedelung, wodurch Begegnungen unwahrscheinlich wurden. Im Roman wird diese im Wald lebende Randgruppe, die ›Alben‹ daher mythisch verklärt oder dämonisiert. Migration, die in der Entwicklung des Homo Sapiens oft vorkam, und deren Folgen, wird dadurch ebenfalls Thema des Romans.
Natürlich beschreibt Ulf Schiewe in seinem Roman nur eine kurze Zeitspanne, und bietet damit eine Momentaufnahme eines langwierigen Entwicklungsprozesses einer Gesellschaft in einer überschaubaren Region.

Der Fantasie sind bei der Beschreibung kaum Grenzen gesetzt, gibt es aus dieser Gegend doch keine schriftlichen Überlieferungen aus der Zeit. Dennoch lassen viele Funde aus der Region Rückschlüsse auf das Leben und auch das Wissen der Menschen zu. Kenntnisse über den Bergbau und die Metallverarbeitung beispielsweise. Letztere wussten schon die Menschen der sogenannten Kupferzeit vor rund 5000 Jahren anzuwenden, wie wir durch die Gletschermumie »Ötzi« wissen, der ein Kupferbeil bei sich trug. Aber eine Bronzescheibe mit Goldeinlagen, die astronomische Konstellation abbilden verlangt weitaus komplexere Kenntnisse und Fertigkeiten als das Gießen eines Kupferbeils. Und schon das ist, wie archäologische Versuche gezeigt haben, mit den seinerzeit vorhandenen Mitteln schwierig genug.

Tatsächlich führt Ulf Schiewe in seinem Roman vor Augen, dass die Menschen der Bronzezeit nicht viel anders sind als wir. Sie leben, lieben, hassen wie eh und je. Und das sie bereits über ausgefeilte Technologien verfügten, und diese auch anzuwenden wussten.
Ulf Schiewe erzählt seine Geschichte im Präsens, dadurch erhält die Handlung etwas Unmittelbares. Der Leser ist dabei, wenn Utrik seine Bronzescheibe bearbeitet und Rana ihre Entscheidung über ihre Zukunft als Priesterin trifft. Dadurch wirkt der Roman gelegentlich eher wie ein Protokoll der Ereignisse als ein Roman, aber das mag Geschmacksache sein. Auffällig ist indes die Verwendung eher zeitgenössischer Begriffe. Beispielsweise wenn das Gesicht des Fürstensohnes Arrak ein Schlangen-Tattoo schmückt, die Protagonisten genervt die Augenbrauen heben oder bei der Beschreibung eines Grabmals ein Dom als Vergleich herangezogen wird, wirkt dies irritierend. Es sind allerdings Vergleiche, die dem heutigen Leser sicherlich helfen, sich ein Bild von dem Erzählten zu machen.

Fazit

Wer sich auf eine Zeitreise in die ferne Bronzezeit begeben möchte, den führt Ulf Schiewe durch seine Erzählweise sehr nah an die Ereignisse, die sich so oder so ähnlich abgespielt haben könnten. Aber eben auch ganz anders. Davon abgesehen erwartet den Leser eine spannende, detailfreudig erzählte Geschichte und eine mögliche Erklärung, welche Bedeutung die Bronzescheibe einst hatte und welchen Zweck sie erfüllte.

Der Autor

autor ulf schiewe
Foto: © Björn Marquart

Ulf Schiewe wurde 1947 im Weserbergland geboren und wuchs in Münster auf. Er arbeitete lange als Software-Entwickler und Marketingmanager in führenden Positionen bei internationalen Unternehmen und lebte über zwanzig Jahre im Ausland, unter anderem in der französischen Schweiz, in Paris, Brasilien, Belgien und Schweden. Schon als Kind war Ulf Schiewe ein begeisterter Leser, zum Schreiben fand er mit Ende 50.

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