Babel

Histo Journal Buchbesprechung: Kenah Cusanit »Babel«

Gelesen & Notiert von Ilka Stitz

babel cover

Inhalt
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019: Ein deutscher Archäologe und eine biblische Aufgabe – die Ausgrabung Babylons
1913, unweit von Bagdad. Der Archäologe Robert Koldewey leidet ohnehin schon genug unter den Ansichten seines Assistenten Buddensieg, nun quält ihn auch noch eine Blinddarmentzündung. Die Probleme sind menschlich, doch seine Aufgabe ist biblisch: die Ausgrabung Babylons. Zwischen Orient und Okzident bahnt sich gerade ein Umbruch an, der die Welt bis in unsere Gegenwart hinein erschüttern wird. Wie ein Getriebener dokumentiert Koldewey deshalb die mesopotamischen Schätze am Euphrat; Stein für Stein legt er die Wiege der Zivilisation frei – und das Fundament des Abendlandes. Kenah Cusanits erster Roman ist Abenteuer- und Zeitgeschichte zugleich – klangvoll, hinreißend, klug.

Hanser Verlag
272 Seiten
ISBN 978-3-446-26165-5
23,00 Euro

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Hanser Verlags

Es sind gerade einmal ein oder zwei Stunden, die der Roman Babel beschreibt und doch umfassen sie nicht weniger als die Entstehung der abendländischen Kultur. Wir schreiben das Jahr 1913, der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus, spürbar auch im Orient. In Bagdad gräbt Robert Koldewey Babylon aus. Die alttestamentarische Stadt, bekannt durch den Turmbau zu Babel, das ehrgeizige Projekt, das Gott mit der Sprachverwirrung bestrafte.
Robert Koldewey leitet die Ausgrabungen im nahen Osten. Nicht nur Babylon, auch die Grabung im nördlich gelegenen Assur steht unter seiner Leitung. Dort arbeitet Walter Andrae, der ehemalige Assistent Koldeweys in Babylon.
Und angesichts der zweifelhaften Kompetenz seines neuen Assistenten Buddensieg trauert Koldewey Andrae hinterher. Nicht nur unter ihm leidet Koldewey, vielmehr macht ihm sein Blinddarm zu schaffen, der ihn auf sein Lager zwingt. Für die Dauer einer Pfeife oder zwei, liegt er still auf seinem Sofa mit Blick über die Grabung und lässt Blicke und Gedanken schweifen. Und diesen schweifenden Gedanken folgt der Leser willig auf den verschlungenen Pfaden der Assoziationen. Soll Koldewey sich in Liebermeisters medizinisches Werk vertiefen, dass zum Thema »Blinddarmentzündung« Erhellung verspricht, fragt er sich unlustig? Ruhe ist angeraten, die auf jeden Fall. Ohnehin ist an Aufstehen oder gar Herumlaufen überhaupt nicht zu denken. Auf der Kommode wartet die Arbeit. Briefe aus Berlin, von der Generalverwaltung der Königlichen Museen, die auf Funde für die Ausstellung drängt und schnellen Grabungserfolg fordert, von der Deutschen Orientgesellschaft, die Zweifel an Koldeweys Ausgrabungskonzept hegt. Und überhaupt Koldewey solle doch wenigstens das bisher Entdeckte endlich publizieren. Auch Delitzsch drängt, der auf neue Schrifttafeln zum Entziffern wartet. Briefe aus Milet, aus Bagdad, Konstantinopel, Assur, Uruk, Wien und Berlin. Und über allem steht der Kaiser, der große Freund des Orients, neben der Orientgesellschaft der größte Gönner und Förderer der Grabung. Und alle liegen im Wettstreit mit den Engländern, die in Ur bereits sensationelle Funde ans Licht förderten. Und jetzt hat sich auch noch Gertrude Bell angesagt, die Britin, die geradewegs aus Ur nach Babylon gereist ist. In Berlin würde es wahrscheinlich mit Stirnrunzeln gesehen, dass Koldewey Gertrude Bell gedanklich bereits einbezogen hat, als Unterstützung, um im Kriegsfall die Funde zu sichern.

Die Briefe stapeln sich auf der Kommode. Aber kein Gedanke, die Briefe zu beantworten, unmöglich gar, überhaupt an sie zu gelangen, der Weg zwischen Sofa und Kommode scheint ebensoweit wie der nach Berlin. Vier Wochen war Koldewey unterwegs gewesen, um dem Kaiser nach fünf Jahren Arbeit im Nahen Osten Bericht zu erstatten. Fünf Jahre Abwesenheit, nach denen Koldewey Berlin kaum wiedererkennt.
Jetzt ist er wieder in seinem Babylon, und kommt nicht vom Sofa hoch. Derweil beobachtet der den Euphrat, an dessen Ufer die Grabung liegt. »Lehm, der sich durch das Wasser bewegte, indem er sich drehte. Wissen, das sich durch den Kopf bewegte, indem es sich drehte. Mit magischen Mitteln, dachte Koldewey. Mit magischen Mitteln die Zukunft beeinflussen zu können? War die babylonische Idee der Divination, die Vorstellung, die Zukunft weissagen zu können, nicht etwas, was auch ihre Gesellschaft lenkte in ihrer wissenschaftlichen Vorstellung, die gesamte Welt basiere auf bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die man nur erkennen müsse, um schließlich ebenjene Welt mithilfe ebenjener Gesetzmäßigkeiten deuten und steuern zu können?« {S.22}
»Nicht bewegen.« So rät ›Liebermeisters Grundriss‹ der inneren Medizin. Und nicht an die Reliefziegel, die nummerierten und unnummerierten Fragmente in 500 Kisten denken. Natürlich denkt Koldewey unentwegt daran, und an allerlei anderes dazu. An Babylon, den Turm, den sie gefunden haben. Ebenso wie das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße, die in Berlin zu neuem Glanz wiedererstehen sollen. Wofür weitere Ziegel benötigt werden. Die Koldewey ausgraben soll. Gezielt ausgraben soll. Doch Koldewey, der Ingenieur verfolgt zum Verdruss seiner Protegés ein ganz eigenes Konzept. Ihm geht es darum, das große Ganze zu erfassen. Und darum lässt er an verschiedenen Stellen graben, statt sich auf verlässliche Fundstätten zu konzentrieren. Seiner Hartnäckigkeit, ja seinem Starrsinn ist es zu danken, dass er den unterirdischen Tempel »Esagila« fand. Denn der befand sich, anders als die Philologen aus Keilschrifttafeln entzifferten, nicht an der Nordostecke des Palastes. Dort stand das Ischtartor, dort begann die Prozessionsstraße. Beobachtung der Geländeformation und seine Intuition führen Koldewey auf die Spur dieses mysteriösen Tempels. Meter um Meter ließ er die Helfer das Gelände ausschachten. Am Ende ist der Graben 21 Meter tief, 22000 Kubikmeter Erde mussten ausgehoben werden, als endlich der Boden des Tempels zum Vorschein kam, versehen mit einer Inschrift von Nebukadnezar, dem König von Babylon.
Diese Darstellung ist nicht nur die Geschichte der Ausgrabung eines Tempels, sondern der Beginn der Geschichte der Ausgrabungen als solcher und der archäologischen Lehre. Das Ganze zu begreifen, Methoden zu verinnerlichen, und sich dafür die Methoden selbstständig zu erarbeiten, ist Koldeweys Ansatz.
Das Große Ganze, das ist das eigentliche Thema dieses Buches, dargestellt anhand Babylons und seines Ausgräbers, einem sperrigen Charakter, dessen verschlungene Gedanken und Vorgehensweisen sich in ebenso verschlungenen Sätzen spiegeln. Die Sprache dieses Buches wirkt wie eine Reminiszenz an die Literatur des beginnenden 20. Jahrhundert. Das wird deutlich an der Stelle, wo die Dienstherren und Kollegen Koldeweys selbst zu Wort kommen. Da nämlich, als Koldewey endlich an den Stapel auf der Kommode gelangt und einen Blick auf die Korrespondenz wirft. Gemeinsam mit ihm überfliegt auch der Leser die Nachrichten aus Assur und Uruk, und aus Berlin. Und da wird klar, dass sich Kenah Cusanit gerade an dieser Sprache orientiert hat und sie aufgreift. Sprache, Handlung, Gebäude und Landschaft ergänzen sich, winden, schlängeln sich wie der Euphrat, fließen langsam, strömen stetig. Und so entfalten sich auf den – angesichts des komplexen Themas – schmalen 266 Seiten ein ganzer Kosmos der abendländischen Kulturgeschichte. Angehäuft mit einem brillanten Detailreichtum, was die konkrete Ausgrabung, aber auch die Archäologie selbst betrifft, wie auch die Geschichte des Grabungshandwerks. Dazu finden sich zahllose Anekdoten über die Kollegen, deren Stärken und Schwächen, was nicht selten mit viel Humor erzählt wird. Aber vor allem ist es der kauzige Koldewey, der mit seinem speziellen Humor oder, zumindest Buddensieg gegenüber, mit einer fast sokratischen Fragetechnik, der dem Leser mit jeder Seite mehr ans Herz wächst, auch wenn man gelegentlich über ihn den Kopf schütteln muss.

Fazit

Ein unglaubliches Buch, voller überraschender Facetten, die den Bogen von der Nordsee bis an den Euphrat spannt, bei dessen Lektüre man unglaublich viel lernt, viel nachdenkt, über den Osten, den Westen, die Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Über Geschichte, die Entstehung von Geschichte und die Gegenwart, also die im Werden begriffene Geschichte. Und natürlich der biblischen Geschichte, deren Wiege in Babylon liegt.
Faszinierend ist, wie es Kenah Cusanit gelingt, den Leser in den Kopf Koldeweys zu versetzen und ihm Babylon, den Irak, ja den ganzen Nahen Osten vor Augen zu führen. Doch ebenso, wie eine Ausgrabung eine mühevolle Arbeit ist, so ist auch das Buch über eine Ausgrabung wie Babylon keine leichte Lektüre. Aber eine aufregende, lehrreiche und überaus unterhaltsame. Und das nicht nur, wenn man das Ischtar-Tor im Pergamonmuseum in Berlin mit eigenen Augen gesehen hat, und die Prozessionsstraße entlanggeschritten ist. In diesem Falle dürfte die Lektüre aber noch einen Extragenuss bieten.

Die Autorin

autorin kenah cusanit
Foto: © Peter Hassiepen

Kenah Cusanit, geboren 1979, lebt in Berlin. Für ihre Essays und Gedichte wurde die Altorientalistin und Ethnologin bereits mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschien ihr Debütroman Babel {2019}.

Informationen zur Autorin auf der Website des Verlags.