Günther Thömmes über das Reinheitsgebot vom 23. April 1516

Am 23.4.2016 jährt sich zum 500. Mal der Tag, an dem die beiden damals Bayern gemeinsam regierenden Herzöge, Wilhelm IV. und sein jüngerer Bruder Ludwig X., während des Ständetags zu Ingolstadt die später als »Reinheitsgebot« bekannt gewordene Verordnung erlassen haben. Ein willkommener Anlass, um einmal zurück zu schauen auf deren wechselvolle Geschichte und ihre Interpretationen.

Herzlichen Glückwunsch: 500 Jahre »Reinheitsgebot« für Bier – eine Würdigung

Gastbeitrag von Autor und Dipl. Braumeister Günther Thömmes

Die Hoffnung der Brauerbünde {des Deutschen wie auch des Bayerischen} auf Anerkennung des Reinheitsgebotes als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe erhielt Anfang 2015 einen herben Dämpfer: Der Antrag wurde abgelehnt. Warum und weshalb? Dazu muss man einmal einen Blick hinter die Kulissen werfen. Denn ein Reinheitsgebot gibt es eigentlich gar nicht. Es offenbart sich uns vielmehr in mindestens drei Spielarten:
Da ist zum einen der offizielle Text dieser Verordnung, dessen Beginn jeder Brauer und Bierfan wohl im Schlaf aufsagen kann: »Wie das Bier im Sommer und Winter auf dem Land ausgeschenkt und gebraut werden soll.« Zum Zweiten gibt es die Version des Reinheitsgebotes der Brauerbünde und Großbrauereien – und, drittens -, das Reinheitsgebot, wie es heute tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird. Es wird sich zeigen, dass diese drei Versionen so gut wie überhaupt nichts miteinander zu tun haben, und erst recht nichts mit der gebrauten Realität.

Aus: Die Hausbücher der
Nürnberger Zwölfsbrüderstiftung

Schauen wir uns zunächst das Original von 1516 an, welches uns so oft und gerne als offizielles ›Reinheitsgebot‹ verkauft wird. Das Jahr 1516 liegt genau an der Schnittstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, sprich: In der beginnenden Renaissance. Doch schon lange vorher, im Hochmittelalter, hatte sich die Trennung der einzelnen Getreidearten für die jeweilige Nutzung entwickelt. »Weizen für’s Brot, Gerste für’s Bier, Hafer für die Pferde« war ein gängiger Spruch. Diese Regel konnten nur die Landesherren – im Falle Bayerns die Wittelsbacher – außer Kraft setzen . Was sie auch taten, indem sie zusätzlich Weizen für die Bierproduktion zuließen, um sich selber das lukrative Weizenbiermonopol zu sichern. Mit dem sie im Sommer die Bierproduktion exklusiv für sich hatten. Denn die für die ›normale‹ Bierherstellung verwendete Hefe arbeitete nicht bei Temperaturen über 15 Grad. Somit konnte man nur darauf hoffen, dass im Sommer – die über Herbst und Winter gebrauten -, ohnehin beschränkten, Vorräte im Eiskeller, nicht verdarben. – So erklärt sich auch, dass die Verordnung ausdrücklich »… im Sommer und Winter …ausgeschenkt und gebraut werden soll«, lautet.
Ab dem Hochmittelalter finden sich auch die meisten Abschriften früherer Reinheitsgebote, besonders aus Bayern: 1156 Augsburg, 1363 München, 1393 Nürnberg, 1434 Weißensee/Thüringen, 1447 Regensburg, 1493 Landshut und, eigentlich als Letztes, 1516 die berühmt gewordene Version aus Ingolstadt. All diese Verordnungen bezeugen eindeutig, dass es dabei selten, eigentlich nie, um die Reinheit des Bieres ging, sondern vielmehr um wirtschaftliche Gründe. Mal ging es um die Nutzung minderwertigen Getreides, da das gute zum Brotbacken gebraucht wurde, mal um die Stellung der Zünfte zueinander und – oft schlichtweg – um’s liebe Geld. Die Ingolstädter Verordnung war somit kein singuläres Gebot, wie uns die Brauerbünde oftmals weismachen wollen, sondern steht in einer Reihe mit vielen anderen, ähnlichen Gesetzen, vorher und nachher. Die Tatsache, dass im Originaltext weder Hefe noch Weizen erwähnt sind, nicht einmal Malz – nur Gerste, macht aus dem Text von 1516 eine nett anzuschauende Urkunde, ohne jegliche Relevanz für die heutige Bierproduktion.

Was hat es nun mit der Version des Brauerbunds und seiner Vision des richtigen Bieres auf sich? Hierzu einige Schlagworte von der Website des Bayerischen Brauerbunds:
»… über 450-jährige unveränderte Gültigkeit des Bayerischen Reinheitsgebotes …«, »… vor billigen Imitaten … schützen …«, »… es stellt die weltweit älteste bis heute gültige lebensmittelrechtliche Bestimmung dar …«, »… selbst in Zeiten größter Not wie während und kurz nach den Weltkriegen haben Bayerns Brauer diese Grundsätze nie verletzt.«
Wie bereits weiter oben angeführt, weist der Originaltext von 1516 erhebliche Unterschiede zum heutigen Text auf. Also von einer über 450-jährigen Gültigkeit zu sprechen, erscheint in diesem Zusammenhang zumindest fragwürdig. Zudem gibt es keinen Beweis dafür, dass in den über 350 Jahren, von der Entstehung des Originaltextes bis zur landesweiten Einführung Ende des 19. Jahrhunderts, das Gebot in Bayern jemals befolgt wurde. Bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde in Bayern die Zugabe von Koriander und anderen Kräutern und Gewürzen wieder erlaubt. Und in älteren Fachbüchern, gleich ob aus Bayern stammend oder nicht, wimmelt es von Rezepten für Kräuterbiere, Kartoffelbieren und anderen Köstlichkeiten. Das Wort »Reinheitsgebot« sucht man in allen Fachbüchern vor dem 20. Jahrhundert vergebens. Wahrscheinlich war es bis dato auch gar nicht bekannt. Deswegen ist auch nicht anzunehmen, dass ausgerechnet die bayerischen Brauer, zumal in Notzeiten – wie beispielsweise dem 30jährigen Krieg, sich an solch ein sonst unbekanntes Gebot gehalten haben sollen.

Das legendäre Tagebuch des Münchner Brauers Gabriel Sedlmayr, gut 200 Jahre später, enthält indes Hinweise auf gar nicht artgerechte Behandlung von schlecht gewordenen Bieren. Diese Praktiken hatte er offensichtlich während eines Englandaufenthaltes gelernt. Und gerade die Angst vor den im Biergeschäft übermächtigen Engländern war es wohl, die das Reinheitsgebot zwischen 1871 und 1906 reichsweites Gesetz werden ließ. Wem dieses alte Gebot damals wieder einfiel, ist jedoch heute vergessen.
Tatsächlich ist der Begriff »Reinheitsgebot« erst im Jahr 1918 erstmalig belegt, aber eigentlich ist er ein Produkt der 1950er Jahre, als die Bierwerbung griffige Umschreibungen brauchte, um mehr Bier unter’s Volk zu bringen. Und der angebliche »Schutz vor billigen Imitaten« zeugt von der Angst, international nicht konkurrenzfähig zu sein. Dass die Brauerbünde – und wohl auch die Verbraucher – jeden Weg abseits des Reinheitsgebotes sogleich mit »Chemie im Bier« gleichsetzen, zeigt deutlich die Geisteshaltung die dahinter steht. Man möchte sich mit anderen Bieren, zum Beispiel nach historischen Rezepten, vielleicht mit Kräutern gebrauten; oder mit anderen Bierstilen wie Sauerbieren, oder gar kreativen Neuschöpfungen nicht auseinandersetzen. Ganz gleich, wie sauber diese ansonsten gebraut werden.

Ich kenne kaum einen Bierfreund oder Brauer, der das Reinheitsgebot komplett abschaffen möchte. Ich sehe auch mich, als Brauer, nicht als Gegner des Reinheitsgebotes, sondern als Kritiker der aktuellen Praxis.

Womit wir bei der dritten Version wären: Das Reinheitsgebot, wie es heutzutage in der Praxis umgesetzt wird. Hier wird es spannend. Beginnend mit dem Namen. Denn das Kind heißt offiziell gar nicht Reinheitsgebot, sondern: »Bierverordnung vom 2. Juli 1990 {BGBl. I S. 1332}, die zuletzt durch Artikel 5 der Verordnung vom 8. Mai 2008 {BGBl. I S. 797} geändert worden ist.«
Mit folgenden Stichworten bei den erlaubten Zutaten und Hilfsmitteln kann man sich in den Gesetzestext einarbeiten: »Anderes Getreide als Gerste«; »Klärmittel«; »Rüben-, Rohr- oder Invertzucker«; »Farbebier« oder »Milchsäure«. Es ist alles möglich, in einem gewissen Rahmen, für gewisse Ausnahmen, mit gewissen Genehmigungen, oder wenn es, wie die Milchsäure, echte Vorteile für den Brauer birgt. Offen und ehrlich sieht anders aus …
Was das Dilemma zuletzt zusätzlich vergrößert hat: Alle drei hier geschilderten Versionen des Reinheitsgebotes haben mit der Begründung, die der Bayerische Brauer Bund Ende 2013 der UNESCO geliefert hat, warum dem Reinheitsgebot der Status eines Weltkulturerbes zuerkannt werden sollte, noch weniger zu schaffen.

»Wenn Deutschland bis heute unangefochten als Biernation gilt, dann ist dies dem Reinheitsgebot zu verdanken. Es garantiert Reinheit, Qualität und Bekömmlichkeit der nach dieser Vorgabe hergestellten Biere. Über Jahrhunderte wurde diese traditionelle Handwerkstechnik fortentwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben. Ungeachtet ihrer jahrhundertealten Tradition steht die Bierbereitung nach dem Reinheitsgebot bis heute für größtmögliche Transparenz bei der Produktion von Lebensmitteln und für ein Höchstmaß an Gesundheits- und Verbraucherschutz. Das Reinheitsgebot garantiert einen Grad an Lebensmittelsicherheit, um den viele andere Bereiche der Nahrungsmittelwirtschaft die deutschen Brauer beneiden. Die Aufnahme des fast 500 Jahre alten Reinheitsgebotes für Bier als traditionelle Handwerkstechnik in das Verzeichnis des Weltkulturerbes wäre für die deutschen Brauer und Mälzer Würdigung und Ansporn zugleich.« So der Wortlaut der Bewerbung im Dezember 2013.
Diese Begründung ist hanebüchen, denn was hat traditionelle Handwerkstechnik, so lobenswert sie ist, mit dem Reinheitsgebot zu tun? Eigentlich überhaupt nichts. Denn das Reinheitsgebot bezieht sich ausschließlich auf die zu verwendenden Rohstoffe. Keine Technik, kein Brauvorgang, keine wie auch immer geartete handwerkliche Fähigkeit wird im Reinheitsgebot, aktuell oder in der Historie, erwähnt. Und Transparenz, nun ja, siehe weiter oben …

Und es wurde auch von der UNESCO-Kommission entsprechend gewürdigt:

»Das Bierbrauen nach dem Reinheitsgebot wurde in der dem Komitee vorliegenden Bewerbung leider nicht überzeugend dargestellt. Hier stand die Lebensmittelvorschrift zu sehr im Vordergrund. Wir hatten auch den Eindruck, dass die Bierproduktion inzwischen sehr industriell geprägt ist. Der Mensch als Wissensträger der Brautradition scheint zunehmend eine nachrangige Rolle zu spielen.«

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Wünsche einen schönen Geburtstag!

Cheers!

Der Fluch des Bierzauberers

»Der Fluch des Bierzauberers«
Günther Thömmes

EIN NEUER ANFANG Der Dreißigjährige Krieg stürzt Deutschland in die Katastrophe. Der Magdeburger Brauherr Cord Heinrich Knoll verliert bei der Vernichtung seiner Heimatstadt alles, was ihm lieb und teuer ist: Frau, Kinder, die Brauerei. Als endlich Frieden herrscht, bekommt er die Chance, unter der Herrschaft des Prinzen Friedrich von Homburg dessen neue Brauerei zu Ehre und Ansehen zu führen. Doch dann droht neues Ungemach von höchster Stelle. Ausgerechnet der Große Kurfürst von Brandenburg zwingt den Bierbrauer zu einem Kampf ums nackte Überleben …

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Gmeiner Verlags.

Copyright Günther Thömmes, April 2016 – Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung.

Der Autor

Günther Thömmes, Jahrgang 1963, stammt aus Bitburg in der Eifel. Er erlernte dort den Beruf des Brauers und Mälzers; danach absolvierte er ein Studium zum Diplom-Braumeister in Freising-Weihenstephan. Er lebt mit Frau und Kind in der Nähe von Wien und braut als Wanderbrauer in verschiedenen Brauereien eigene Kreativbiere für seine Bierzauberei. Er hat zahlreiche Fachartikel zu den Themen Bier und Brauhistorie in verschiedenen Zeitungen und Fachzeitschriften veröffentlicht – dazu mittlerweile vier historische Romane und diverse Kurzkrimis, meist mit Bierbezug.

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