Histo Journal Interview: Elke Weigel

Histo Journal Interview: Elke Weigel über »Tod und Irrtum«

Just erschien mit »Tod und Irrtum« der neue historische Roman von Elke Weigel. Im Histo Journal Interview spricht die Autorin über ihren just erschienenen historischen Roman »Tod und Irrtum«, gesellschaftliche Tabus des beginnenden 20. Jahrhunderts & verrät, was Sigmund Freud in ihren Augen so genial macht …

von Alessa Schmelzer

Histo Journal: Im August erschien Ihr neuer historischer Krimi »Tod und Irrtum« im Gmeiner Verlag. Mögen Sie den Inhalt kurz umreißen?

Elke Weigel {EW}: Die Geschichte spielt 1910 in Stuttgart.
Als Henriette Haag nach einer längeren Reise wieder zu Hause ankommt, wird gerade ihre junge Haushälterin Magdale blutüberströmt in die Klinik abtransportiert. Der Arzt spricht von einem Suizidversuch, doch die Blutspuren, die Henriette in Magdales Bett findet, deuten auf eine Abtreibung oder Fehlgeburt hin. Als ein Toter entdeckt wird und Magdale unter Mordverdacht gerät, glaubt Henriette an die Unschuld ihrer Haushälterin und sucht die Unterstützung ihrer Freundinnen, die wissen müssten, was während ihrer Abwesenheit vorgefallen ist.
Doch die schöne Felise ist damit beschäftigt sich vom berühmtesten Maler in Stuttgart portraitieren zu lassen, und Josefine, die Frau des Arztes, plagt sich mit Eifersuchtsgefühlen.
Seit dem Tod ihres Mannes hat sich Henriette mit Psychoanalyse beschäftigt und mit ihrem neu erworbenen Wissen um die Macht des Unbewussten, Versprechern und anderen Irrtümern, will sie den Mörder finden und ihr Leben wieder in ruhige Bahnen lenken.
Aber das Unbewusste ist eine unberechenbare Größe, auch in ihr.

Histo Journal: Henriette Haag, die Hauptfigur des Krimis, ist eine für die Zeit eher unkonventionelle Frau. Sie reist zum Beispiel u.a. nach Wien, um sich bei auf Freuds ›Couch‹ zu legen. Was veranlasst Henriette zu diesem Schritt? Oder war der um 1910 gar nicht so ungewöhnlich?

EW: Das war absolut ein ungewöhnlicher Schritt! Sigmund Freud war zu dieser Zeit {1910} in Wien ein bekannter Arzt, aber seine neu entwickelte Methode, die »Redekur«, wurde in Deutschland nur von wenigen seiner Schüler praktiziert. Seine ersten Patienten waren Frauen, die »hysterische« Symptome zeigten. Heute würde man diese eher »psychosomatisch« nennen.
Eingezwängt in ein Korsett, bekamen Frauen kaum Bildung, wurden eingeschränkt auf ein Leben, dem Mann zu dienen und Kinder zu bekommen. Wenn sie etwas anderes wollten, hielt man sie für unweiblich, unnatürlich oder sogar für verrückt. Eine eigene Sexualität wurde ihnen abgesprochen.
Freud erkannte, wie wichtig es ist, den Frauen zuzuhören und es stellte sich heraus, das viele der gutsituierten Frauen, die ihn aufsuchten, unter den Tabus der Gesellschaft litten.

Sigmund Freud, Porträt-Fotografie um 1905

Histo Journal: In »Tod und Irrtum« schildern Sie auch die gesellschaftspolitische Situation der Frauen allgemein {was sowohl die begüterten als auch die weniger begüterten Frauen betrifft}. Ist das ein Leitmotiv in Ihren {historischen} Romanen und Krimis? {Anm.: Henriettes Welt ist ja offenbar ziemlich in Veränderung begriffen. So erhält sie von ihrer Tochter Charlotte eine Karte aus London, die von einer Versammlung von Suffragetten berichtet. An einer Stelle sagt ihre Freundin Josefine: »Wir [gemeint sind die Frauen] nehmen immer Einfluss, nur eben nicht in der Öffentlichkeit.« {S. 28}.}

EW: Wie ging es den Frauen und wie lebten sie in früheren Zeiten?, das ist ein Thema, das mich schon seit meiner Jugend interessiert. In Geschichtsbüchern wird vor allem von Männern berichtet, bevorzugt von mächtigen Männern, Königen, Päpsten und Politikern, das bildet aber nicht ab, wie sich das Leben der Frauen gestaltete. Welche Rollenerwartungen wurden an sie gestellt? Welche Rechte hatten Sie, welche nicht? Wie sah ihr Alltag aus? Dabei betrachte ich in meinen Romanen nicht nur die einzelne Frau, sondern auch ihre Beziehungen untereinander. So wie Männer schon immer Seilschaften untereinander gebildet haben, setzten Frauen auf weibliche Verwandte und Freundinnen. Das ist ein Thema, das ich in meinen Romanen gerne aufgreife. Wie unterstützten sich Frauen gegenseitig und nahmen dadurch Einfluss auf die Gesellschaft?
Ein Thema, das heute immer noch wichtig ist.

Histo Journal: Freud erhielt zeit seines Lebens viele Briefe. In »Tod und Irrtum« nutzen Sie dies und gewähren Ihren Lesern Einblicke in Henriettes Inneres, indem diese ihr Handeln in Briefen an Freud reflektiert. Thomas Mann bezeichnete in einem seiner Briefe an Freud dessen Abhandlungen als »eine Quelle aller Genialität« {aus: Thomas Mann, Briefe 1889-1936, Aufbau Verlag 1965, Hrsg. von Erika Mann, S. 330}. Nicht nur Thomas Mann verarbeitete sein über die Psychoanalyse erworbenes Wissen in seinen Romanen und Novellen, auch andere Schriftsteller wie z.B. Hermann Hesse interessierten sich dafür. Was macht Freuds Psychoanalyse so besonders? Lässt sich das überhaupt in wenige Sätze fassen?

EW: Freud war tatsächlich genial. Man muss bedenken, wie revolutionär seine Theorien in der Wende zum 20. Jahrhundert waren. Bis dahin hatte noch niemand versucht zu beschreiben, wie die Psyche funktioniert. Heute ist die Vorstellung eines Unbewussten Allgemeinwissen geworden. Damals allerdings dachte man, der Mensch sei absolut Herr über sich selbst: »Man tut, was man für richtig hält, man denkt, was man weiß.« Freud beschrieb nun das Unbewusste, als einen unberechenbaren Teil in uns, der uns zu Gefühlen und Handlungen veranlasst, die sich unserem rationalen Verständnis und unserer bewussten Wahrnehmung entziehen. Auf einmal hieß es: »Man tut, was das Unbewusste verlangt, man denkt etwas, was unbewusste Gefühle diktieren.«
Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie das die Menschen erschüttert hat. Für Schriftsteller wie Thomas Mann, Hermann Hesse und andere bot dieses Wissen eine Fülle an neuen Themen für ihre Literatur.
Alles, was unter der Oberfläche schlummert und unerwartet hervorbrechen kann, die Libido zum Beispiel. Unter Libido verstand Freud nicht nur eine sexuelle Energie im Menschen, sondern eine Lebensenergie, die sich auf alles Mögliche richten kann. Was ich auch Henriette erleben lasse. Sie setzt sich mit ihrer Sexualität auseinander, ihren Wünschen und Trieben, wie das bei Freud heißt. 1910 sollte eine Frau keine sexuellen Wünsche haben, keine Leidenschaften empfinden, auch nicht für Bildung oder eine Berufstätigkeit außerhalb des Hauses. Eine Wittwe von 45 Jahren schon gar nicht. Henriette entdeckt sich selbst, während der Ermittlungen um ihre junge Haushälterin, neu. Teilweise stürzt es sie in große Verwirrung; das sind die humorvollen oder dramatischen Szenen in meinem Buch.

Histo Journal: In Ihrem historischen Krimi »Eissommer«, dessen Handlung 1815 und 1846 {Stuttgart} situiert ist, geht es um Heilmagnetismus und Visionen. Was hat es damit auf sich?

EW: 1815 waren Aberglaube und die Überzeugung, dass Visionen real sind für die Menschen selbstverständlich. Ich erzähle in einem Teil der Geschichte, wie ein Naturereignis auf eine abgeschiedene dörfliche Gemeinschaft wirkt.
1846, nur dreißig Jahre später, hatte sich die Gesellschaft rasant weiterentwickelt und zwei Frauen, die in der Stadt leben, gehen mit dem gleichen Phänomen ganz anders um. Zum Beispiel verwenden sie Techniken wie den Heilmagnetismus, eine Art Vorläufer der Hypnose, um ein Verbrechen aufzuklären.
Der Roman enthält allerdings auch Elemente aus dem magsichen Realismus, da ich glaube, dass es vieles gibt, das über das rational Erklärbare hinausgeht.

Historische Aufnahme vom Monte Verità

Histo Journal: Der Titel Ihres ersten historischen Romans indes lautet »Robin und Jennifer« {erschienen im Konkursbuch Verlag}. Darin geht es um zwei Frauen, Robin und Jennifer, die sich kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem Monte Verità {ital. Berg der Wahrheit} in Ascona kennenlernen und ineinander verlieben. Ein nahezu perfekter Ort dafür … Was bedeutet Ihnen die Geschichte des Monte Verità?

EW: »Robin und Jennifer« ist ein Entwicklungsroman und kontrastiert zwei Lebensläufe. Robin wächst im konservativen Cannstatt auf, ist eine der ersten Schülerinnen eines Mädchengymnasiums und Studentin in Tübingen. Sie kämpft für ihre Recht auf Bildung und Berufstätigkeit. Jennifer dagegen lebt in der Bohéme in Paris unter Künstlern und lässt sich treiben. Nur der »Neue Tanz« interessiert sie. Beide müssen nach dramatischen Ereignissen ihre Heimat verlassen und finden auf dem Monté Verita eine Art erster Hippie-Kommune.
Ich selbst habe in meiner Ausbildung zur Tanztherapeutin unter anderem Ausdruckstanz studiert. Diese Tanzrichtung, die sich vom Ballett distanzierte und den authentischen Ausdruck der Gefühle und des Körpers suchte, nannte sich in den Anfängen den »Neuen Tanz«. Meine Ausbilderin, Fe Reichelt, war selbst Schülerin von Mary Wigman, einer der Begründerinnen der neuen Tanzrichtung. Da Mary Wigman 87 wurde und Fe Reichelt inzwischen schon 91 Jahre alt ist, konnte sie mir direkt davon erzählen, was Mary Wigman sagte und wie sie unterrichtete. Damit rückt für mich die Vergangenheit in greifbare Nähe und wird Teil meines Lebens.

Die tanzende Mary Wigman
von Ernst Ludwig Kirchner

Es ist nicht egal, wie die Frauen vor über 100 Jahren lebten, weil es lange her ist, es ist ein Teil unseres heutigen Selbstverständnisses. Und das möchte ich den Leserinnen meiner Romane auf unterhaltsame Weise näherbringen.
Während einer Recherchereise an den Lago Maggiore, konnte ich die Hütten und Wiesen besuchen, wo die Cooperative, wie sie es nannten, versuchte eine neue, freiheitliche Form des Zusammenlebens zu praktizieren. Ohne verheiratet zu sein, ohne Korsett und Handschuhe, in Reformkleidern und mit vegetarischer Ernährung … Und Mary Wigman tanzte dort mit ihren Schülerinnen unter freiem Himmel.

Histo Journal: Neben historischen und zeitgenössischen Romanen und Krimis schreiben Sie auch {historische} Kurzgeschichten. Eine trägt den Titel »Wenn Weiber über ihre Sphären steigen«. Trägt diese Geschichte über Annette von Droste-Hülshoff schon die Idee zum 2015 erschienen Roman »Der Traum der Dichterin« in sich? Und wenn ja, inwiefern?

EW: Es war andersherum. Der Roman war schon fertig, als ich die Ausschreibung für den Kurzgeschichtenwettbewerb von Quo Vadis entdeckte. Ich wusste also schon sehr viel über die besondere Beziehung der Droste zu Wilhelm Grimm, und nutzte dies, um eine Kurzgeschichte zu schreiben. Ich gewann dann sogar den 2. Preis und wurde zur Preisverleihung nach Billerbeck eingeladen. Rene Stein, damals Lektor des Gmeiner Verlags, kam dort auf mich zu und wollte den Roman lesen. Kurz darauf bekam ich den Vertrag.

Histo Journal: Ist ein zweiter Teil zu Henriette Haag geplant?

EW: Ich würde gerne noch weitere Krimis mit Henriette Haag schreiben, sie könnte ihr Wissen um die Unberechenbarkeit des Unbewussten hervorragend zur Lösung weiterer Fälle einsetzen. Es hängt davon ab, ob der Gmeiner Verlag sich dafür begeistern kann.

Histo Journal: Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern arbeiten zudem auch als Psychologin und Tanztherapeutin. Mal ehrlich: Leben Ihre Figuren in Ihren Büchern Praktiken/Methoden der Psychoanalyse {oder der Psychologie} aus, die Ihnen im Berufsleben verboten sind? ;-)

EW: Keine meiner Protagonistinnen verwendet therapeutische Methoden, die verboten sind. Die von mir beschriebenen Techniken gibt es und sie werden in Psychotherapien auch eingesetzt. Unorthodox für einen Krimi ist nur, dass sie psychotherapeutische Methoden anwenden, um einen Täter zu überführen. Polizeiarbeit spielt in meinen Krimis eine untergeordnete Rolle.
Henriette Haag in »Tod und Irrtum« ist Autodidaktin zu einer Zeit, in der es noch keine bestimmten Voraussetzung gab, um als Analytikerin arbeiten zu dürfen.
Carolin Baittinger {»Mutterschuld« und »Sterben in Schwarzweiß«} handelt fachlich auch korrekt, nur agiert sie ständig außerhalb der Klinik oder Praxis, vermischt Privates und Berufliches, was ich als Psychologin nicht tun darf und auch nicht möchte.

Histo Journal: Herzlichen Dank für dieses Interview!

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