Die Tochter des Zauberers

Histo Journal Besprechung: Heidi Rehn – »Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben«

Gelesen & Notiert von Alessa Schmelzer

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Inhalt
New York, 1936: Erika hofft darauf, mit ihrem politischen Kabarett die Amerikaner für den Kampf gegen Hitler zu gewinnen. Dann lernt sie im Kreis der europäischen Exil-Künstler einen Mann kennen, der ihr mehr bedeutet, als sie jemals für möglich gehalten hätte – den Arzt und Lyriker Martin Gumpert, der fasziniert ist von ihrer Stärke und Unabhängigkeit. Bald muss sie sich entscheiden: Ergreift sie die Chance, sich als Kämpferin für Frieden und Freiheit zu etablieren, oder setzt sie ihr persönliches Glück an erste Stelle?

Aufbau Verlag
Klappenbroschur, 448 Seiten
Preis: 12,99 Euro

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Aufbau Verlags.

»Es gibt nichts in meinem Leben, was ich nicht bereitwillig erzählt hätte; nichts, was ich aus irgendeinem Grund verheimlichen müsste.« – Erika Mann

Im Jahr 1936 befinden sich Erika und ihr Bruder Klaus Mann auf dem Weg in die USA. Nichts ist mehr sicher in Deutschland, in ganz Europa, seit die Nationalsozialisten die Macht an sich gerissen haben und den Großteil des deutschen Volkes vorbehaltlos hinter sich wissen. Erika und Klaus sind zu diesem Zeitpunkt längst politisiert, wissen um die Niedertracht dieser Partei und beziehen auch öffentlich Stellung gegen das Regime. Ab 1933 gab Klaus Mann »Die Sammlung«, eine Literarische Monatszeitschrift heraus. Für »Die Sammlung« gewann Klaus Mann Schriftsteller wie Stefan Zweig, André Gide und seinen Vater, Thomas Mann. Auch Heinrich Mann, sein Onkel, war ›on board‹. Unterstützung finanzieller Art erhielt Klaus Mann von Annemarie Schwarzenbach. Erika Mann engagiert sich, indem sie weiterhin streitbare Texte gegen die Nationalsozialisten schreibt und diese als Schauspielerin in der der »Pfeffermühle«, jener legendären Kabarettgruppe, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus, Therese Giehse und Magnus Henning gegründet hatte, auf die Bühne bringt.
Jetzt, im Jahr 1936, befindet sich das Geschwisterpaar auf dem Weg in die Staaten. Erika will dort die Pfeffermühle etablieren, die restlichen Ensemblemitglieder, darunter ihre Geliebte, die Schauspielerin Therese Giehse, kommen nach …

Wer den Roman liest, begegnet Erika Mann zunächst im Prolog. Rehn hat diesen im Präsens geschrieben, so dass wir als Leser*innen unmittelbar in Erikas Erleben eingesogen werden …
Im Roman ist es Anfang April 1933. Erikas Aufgabe ist es, ein dickes »Manuskriptbündel« {S.7} aus der ›Poschi‹, der elterlichen Villa in München, zu holen. Es ist eine abenteuerliche Geschichte, gefährlich und somit ganz nach Erika Manns Geschmack. Wir lernen sie als mutige Frau kennen, die für den ›Zauberer‹ bereit ist ihr ehemaliges Zuhause, den Ort ihrer behüteten Kindheit und Jugend, einzudringen. Einem Dieb gleich muss sie sich einschleichen, weil der ehemals glückliche Ort derweil von Nazis bewacht wird. Sofort sind wir auf Erikas Seite, fiebern mit ihr und sind erst beruhigt, als sie unbehelligt wieder herausfindet … – Chapeau! Was für eine Frau!

Szenenwechsel – September 1936 bis Dezember 1937

Rehn erzählt nicht Erika Manns gesamtes Leben, obwohl auch dies aus ihrer Feder eine Freude wäre zu lesen, da bin ich mir ganz sicher, sondern nur einen kleinen Ausschnitt. Es sind die ereignisreichen New Yorker Jahre von Herbst 1936 bis Ende 1937, die Rehn sich herauspickt und ihren Leser*innen serviert.
Erika und Klaus sind in New York. Sie waren schon einmal dort, waren schon einmal gemeinsam in den USA. Seinerzeit – rund ein Jahrzehnt zuvor – feierte die Presse sie als ›literary Mann-twins‹. Damals, so könnte man sagen, denn außer in die USA führte ihr Weg sie auch noch u.a. nach Japan, China und Russland, entstand ihr Buch »Rundherum«. Eine freudige und gefahrlose Entdeckungstour, ihre – nennen wir es in Anlehnung an Goethes Zeitgenossen – Grand Tour.
1936 liegen die Dinge indes anders. Die Mann Geschwister sind älter geworden, beziehen politisch eindeutig Stellung und sind mutig genug ihrer Überzeugung zu folgen und Ausdruck zu verleihen. Die Nationalsozialisten haben Deutschland mit ihrer Ideologie überzogen. In Gefahr sind deshalb nicht nur viele Mitglieder des Ensembles {Therese Giehse, die schon aus Deutschland geflohen war, wurde von den Nazis unter Druck gesetzt, indem sie ihren Bruder verhafteten und ins KZ sperrten – dies wohl, um die Giehse, Hitler mochte sie, zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen}, sondern auch etliche andere Künstlerfreunde und natürlich enge Verwandte. Viele waren jüdischen Glaubens oder waren assimilierte Juden. Auch Erika Manns Großeltern, die anders als die Eltern noch in München weilten, hatten jüdische Wurzeln.
Erika Mann will – oder besser gesagt: muss! – die Amerikaner für das politische Geschehen in Europa sensibilisieren, möchte sie diese für den Kampf gegen Nazi-Deutschland gewinnen. Dies kann indes nur gelingen, da ist sich Erika Mann sicher, wenn die Pfeffermühle zur peppermill wird und ihre Texte fortan auch in englischer Sprache vorträgt. Nur so, verstehen die Amerikaner die Brisanz. Die Frage ist nicht, ob sich ein geeigneter Übersetzer der Texte finden lässt, sondern ob die Amerikaner die Brisanz der Geschehnisse in Europa verstehen.
Erika und Klaus Mann kennen – nicht nur durch ihre erste Reise – viele {wichtige} Leute in den USA, nicht zuletzt der weltberühmte Name des Vaters öffnet ihnen Türen, die anderen verschlossen bleiben würden – und Erika Mann, sie trifft z.B. Eleanor Roosevelt, weiß diese Berühmtheit für ihr politisches Projekt zu nutzen. Denn, Heidi Rehn webt dies wunderbar in ihre Figurenzeichnung ein, es ist nicht Eigennutz, der Erika Mann antreibt, nicht persönliche Bereicherung, sondern allein politisches Denken, dass ihrem Handeln zugrunde liegt und es in dieser Form erzwingt.

Zwischen allen Stühlen

Erika Mann reibt sich auf, sitzt immerzu zwischen allen Stühlen, weil jeder an ihr zerrt und sie es letztlich keinem Recht machen kann. Zug um Zug scheint sich Erika Mann inmitten dieser Strömungen zu verlieren. Rehn erzählt Erika Manns Streben innewohnende Tragik spannungsreich und kurzweilig.
Einfühlsam schildert Rehn ihr innigliches Verhältnis zu Bruder Klaus, dem sich Erika auch über Kilometer hinweg verbunden fühlt. Diese geschwisterliche Zuneigung, ihre Seelenverwandtschaft, die von tiefen {übrigens platonischen – falls hier Fragen aufkommen sollten} Gefühlen füreinander geprägt ist, beschreibt Heidi Rehn mit großem Verständnis und daher entsprechend einfühlsam. Diese ihre Beschreibungen der geschwisterlichen Zuneigung gehören für mich zu den berührendsten Passagen des Romans.
Kompliziert ist ihre Beziehung indes zu Therese Giehse. Die langjährige Geliebte der bisexuellen Erika Mann ist ein Münchner Urgestein, das nicht einfach so in eine andere Welt verpflanzt werden kann. Die Giehse definiert sich als Schauspielerin vor allem über ihre Sprache, mit dieser und ihrer Mimik ist sie in der Lage alles auszudrücken {- wer Therese Giehse einmal in »Die Physiker« gesehen hat oder auch als strenge Rektorin in »Mädchen in Uniform«, weiß, was damit gemeint ist}. Letztlich reist die Giehse nur Erika zuliebe in die USA … 
Im Bedford trifft sie auf Martin Gumpert. Er ist Arzt und Dichter, kennt den Vater. Ihm und seinen sanften Augen verfällt Erika umgehend, kaum dass sie das Hotel betritt. Gumpert, der sich ebenfalls in Erika verliebt, will sie jedoch immerzu beschützen, am liebsten in einem gemeinsamen Heim. Fraglich, ob Erika die richtige Kandidatin für dieses traute Unterfangen ist … 
Der knapp fünfzigjährige Maurice Wertheim, millionenschwerer Bankier und Mäzen, hat ebenfalls ein Auge auf die moderne, unabhängige und selbstbewusste Dichtertochter geworfen. Wertheim, der getrost ihr Vater sein könnte – und der auch Töchter in ihrem Alter hat, die Historikerin Barbara Tuchman {»Der ferne Spiegel«} ist eine von ihnen – gefällt auch Erika. Gleichviel, Maurice, der solche an Zweig erinnernden Sätze sagt, wie: »Schade, dass diese Welt jetzt schon von gestern ist.« {S. 120} ist anders als Therese, anders als Martin Gumpert. Es ist eine echte Zwickmühle, in der Erika sich da verfangen hat.
Und da ist auch noch Annemarie Schwarzenbach, die Schweizer Freundin, die seit Jahren unglücklich in Erika Mann verliebte. Miro, das ist ihr Kosename, ist auch so ein Sorgenkind Erika Manns. Auf diese muss sie genauso aufpassen wie auf Klaus, der den Drogen mehr zuspricht als gut für ihn ist. Annemarie stammt zwar aus bester Familie, doch ist ihre Mutter eine glühende Nazi-Anhängerin, die stets gewillt ist, Andersdenkenden den Teufel auf den Hals zu hetzen. Dafür kann gleichwohl die lesbische Tochter nichts, die mit dieser dominanten Mutter auch nicht gerade das beste Los gezogen hat.
Neben diesem dichten Beziehungsgeflecht, jede dieser schillernden, auf eigene Weise faszinierenden Personen, will etwas von ihr, kämpft Erika um die Zukunft der ›peppermill‹ …

Ein freier Geist

Heidi Rehn gelingt mit »Die Tochter des Zauberers« ein wunderbarer Roman nicht nur über Erika Mann und jene Zeit, sondern über die Kraft starker Frauen an sich. Erika Mann ist ungebunden, sie ist ein freier Geist, eine schon damals moderne Frau im heutigen emanzipierten Sinne. Eine Frau, die sich nicht unterordnen will und auch nicht wüsste, aus welchem Grund sie dies sollte. Für ihre Überzeugung{en} ist Erika Mann zwar bereit auf Vieles zu verzichten, aber der Gewinn, den sie letztlich doch aus allem gezogen hat, scheint um ein Vielfaches betörender und wichtiger gewesen zu sein. Wie drückte es Erich Kästner aus? »Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.«

Der Dramaturgie geschuldet

Wer sich im Kosmos der Manns ein wenig auskennt, der wird über ein paar Daten und Ereignisse gestolpert sein. So war Klaus Manns »Mephisto« im Herbst 1936 schon längst erschienen. Es gibt noch andere Daten, an denen Heidi Rehn aus dramaturgischen Gründen ein wenig gedreht hat. Letztlich fügt sich alles wunderbar in das Romankonzept ein.

Fazit

Heidi Rehn schildert die wenigen Monate aus Erika Manns Leben tempo- und spannungsreich. In New York treffen wir so auf das ›Who’s who des Exils‹, tauchen ein in das jazzige, faszinierende Nachtleben inklusive Ella, erleben Erikas Welt hautnah mit und erhalten auf diese Weise einen aufwühlenden, schonungslosen und packenden Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt dieser klugen und mutig agierenden Frau. Das der Romanhandlung vorangestellte Erika Mann Zitat ist deshalb auch so passend: »Es gibt nichts in meinem Leben, was ich nicht bereitwillig erzählt hätte; nichts, was ich aus irgendeinem Grund heraus verheimlichen müsste.«

Die Autorin Heidi Rehn zählt längst zur Top Liga des Genres. Wer »Die Tochter des Zauberers« liest, weiß warum …

Absolute Leseempfehlung.

heidi rehn
Heidi Rehn
© Susie Knoll
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Heidi Rehn, Jahrgang 1966, wuchs im Mittelrheintal auf und kam zum Studium der Germanistik und Geschichte nach München. Seit vielen Jahren widmet sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 2014 erhielt sie den »Goldenen Homer« für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Als »Kopfkino live« bietet sie sehr erfolgreich Romanspaziergänge durch die Münchner Innenstadt an, bei denen das fiktive Geschehen eindrucksvoll mit der realen Historie verbunden wird.

Im Aufbau Taschenbuch ist von ihr der Roman »Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben« sowie der historische Krimi »Das doppelte Gesicht« erschienen.

Aktueller Roman – Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben
New York, 1936: Erika hofft darauf, mit ihrem politischen Kabarett die Amerikaner für den Kampf gegen Hitler zu gewinnen. Dann lernt sie im Kreis der europäischen Exil-Künstler einen Mann kennen, der ihr mehr bedeutet, als sie jemals für möglich gehalten hätte – den Arzt und Lyriker Martin Gumpert, der fasziniert ist von ihrer Stärke und Unabhängigkeit. Bald muss sie sich entscheiden: Ergreift sie die Chance, sich als Kämpferin für Frieden und Freiheit zu etablieren, oder setzt sie ihr persönliches Glück an erste Stelle?
Die bislang unbekannte Liebesgeschichte einer großen Frau, die sich in einer düsteren Epoche behaupten muss …

Aktueller Krimi – Das doppelte Gesicht – Ein Fall für Emil Graf
München, August 1945. Die Stadt versinkt im Chaos. Die Reporterin Billa Löwenfeld, aus dem Exil zurückgekehrte Jüdin, soll den Kriegsheimkehrer Viktor von Dietlitz interviewen. Doch sie findet ihn erschossen auf. Der noch unerfahrene Ermittler Emil Graf soll den vermeintlichen Routinefall klären. Wenig später gibt es zwei weitere Morde nach demselben Muster – und der totgeglaubte Viktor von Dietlitz taucht wieder auf. Eine Verwechslung? Bald entdeckt Emil, dass ausgerechnet Billas Mutter die gesuchte Verbindung zwischen den drei Opfern ist …</p>

Heidi Rehn im Histo Journal:

Special zu Heidi Rehn
5-teiliges Special – Die Autorin Heidi Rehn
Interview
Tanz des Vergessens
Heidi Rehn – Historisches über »Der Sommer der Freiheit«
Werkstattgespräch

Gastbeitrag
Gretchen mag’s mondän

Buchbesprechung
Der Sommer der Freiheit
Tanz des Vergessens

Autorenportrait
Heidi Rehn im Portrait

Hier gelangen Sie zur Website der Autorin.

Aktuelles Special zu Heidi Rehn
Sonntag, 10. Januar: Interview zu Erika Mann
Dienstag, 12. Januar: Buchbesprechung des Romans »Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben«
Donnerstag, 14. Januar: Kurz Interview zu ›alten und neuen Kommunikationswegen mit Leser*innen‹ sowie Ausblick und ausführliche Vorstellung ihres neuen historischen Krimis »Das doppelte Gesicht – Ein Fall für Emil Graf«