Lew Wallace: Ben Hur

Jesus, Lincoln und Billy the Kid

– oder: wie Lew Wallace mit »Ben Hur« einen der berühmtesten historischen Romane schuf

von T.M. Schurkus

Lew Wallace wurde von dem Gedanken gequält, dass sein Name in der Weltgeschichte mit Schmach und Schande behaftet sein würde und er die Schuld am Tod von vielen tausend Mensch trug. Manche sehen darin die treibende Kraft für das Entstehen von »Ben Hur«. Der Roman trägt den Untertitel »A Tale of the Christ«. Aber die Hauptfigur ist Judah Ben-Hur, ein Jude, der zu Unrecht beschuldigt wird, einen Anschlag auf den römischen Tribun begangen zu haben. Judah wird verfolgt und versklavt und besiegt schließlich in einem großen Wagenrennen seinen ehemaligen Freund und nun ärgsten Widersacher Messala. Dann aber erkennt er, dass die Rache ihm nicht die erhoffte Befriedigung bringt. Aber da war ja noch der Mann mit den Kastanienfarbenen Locken und den blauen Augen – am Schluss bekennt sich Judah zu Jesus als Messias und Erlöser. Und auch der Autor konnte sich aussöhnen mit dem blutigsten Tag in seinem Leben.

Zwei Wege im Wald

Lew Wallace wurde 1827 in Indiana, USA, geboren, damals ein Grenzstaat hinter dem das Indianerland begann. Seine Familie gehörte zu den Honoratioren ihres Heimatortes – der Vater war Anwalt und schließlich sogar Gouverneur – und konnte nach den Verhältnissen der Zeit als wohlhabend geltend. So kam es, dass Wallace früh schon Zugang zu Büchern hatte. Begeistert verschlang er die {Ritter}Romane von Sir Walter Scott und versank ganz in der Welt des höfischen Codes von Tapferkeit und Ehre. Er hatte daher wenig Neigung, seinem Vater in die juristische Profession zu folgen und nahm es daher als Glücksfall, dass er sich vor den entsprechenden Prüfungen drücken konnte, weil die USA Mexiko den Krieg erklärt hatten. Er träumte von Heldenmut auf den Feldern der Ehre und meldete sich, kaum 19 Jahre alt, freiwillig. Statt Heldentum fand er jedoch nur ein Fort, das von Typhus heimgesucht wurde, und die Sache endete wenig glanzvoll.

Lew Wallace

Dennoch zögerte er 13 Jahre später nicht, sich erneut für den Waffendienst zu melden, um gegen die Südstaaten zu kämpfen, die gegen die Union rebellierten. Nach einigen Erfolgen in kleinen Waffengängen wurde er zum General befördert. Er suchte im Krieg immer noch das ritterliche Abenteuer, von dem er in vielen Büchern gelesen hatte. Als General Grant, der spätere Oberbefehlshaber der US Truppen, in Tennessee einmarschierte, traf er auf überraschend heftigen Widerstand der Südstaatler. Wallace bekam den Befehl, mit seinen Truppen in eine günstigere Position vorzurücken. Auf seinen Karten fand Wallace dafür zwei mögliche Wege. Der, für den er sich entschied, führte ihn jedoch in einen Bereich des Schlachtfelds, wo er wenig ausrichten konnte. Als er umkehrte, konnte er an diesem Tag nicht mehr von Nutzen sein: Andere hatten die Schlacht ausgefochten und tausende waren zu Tode gekommen.
Die Schlacht von Shiloh {oder Pittsburgh Landing} im April 1862 gilt als eine der blutigsten des US Bürgerkriegs und Wallace wurde die Schuld daran gegeben. In den Zeitungen und Militärberichten wurde gemutmaßt, dass er sein Erscheinen absichtlich verzögert hatte, aus Feigheit, weil er die Nerven verloren hatte.
Wallace wurde auf einen »Papierposten« abgeschoben und litt unter den Vorwürfen, die er nicht entkräften konnte. Aber der Krieg sollte noch viel sinnloses Blutvergießen sehen – bis zu dem traumatischen Moment in der US Geschichte, in dem Präsident Lincoln bei einem Theaterbesuch erschossen wurde. Wallace gehörte zu der Jury, die die Attentäter verurteilte. Aber er erkannte, dass gegenseitige Vergeltungsgelüste das Land nur tiefer in die Spaltung treiben würden und setzte sich bald schon dafür ein, dem besiegten Süden die Hand zu reichen.

Zugfahrt mit Ben Hur

Zugfahrten scheinen einen festen Platz in der Literaturgeschichte zu haben, zumindest wird der Ursprung einiger erfolgreicher Bücher auf eine Zugreise zurück geführt. 1876 war Wallace auf dem Weg zu einem Veteranentreffen und wurde im Zug von einem ehemaligen Kameraden, Robert Ingersoll, angesprochen, der die Reise mit einem philosophischen Gespräch verkürzen wollte. Das Thema war nichts weniger als die Frage nach der Existenz Gottes. Ingersoll war ein in seiner Zeit bekannter Agnostiker, und Wallace hatte seinen Argumenten wenig entgegen zu setzen. Das stimmte ihn nachdenklich. Zwar hatte er sich bisher als gläubig bezeichnet, die Inhalte hatte er aber wenig hinterfragt. Für ihn war das Leben Jesu Christi der Beweis für die Existenz Gottes. Die Bibel legt davon Zeugnis ab, aber vielleicht war die Botschaft des Neuen Testaments in theologischen Spitzfindigkeiten untergegangen?
Wallace erinnerte sich einer Kurzerzählung, die er verfasst hatte und in der er den Weg der drei Weisen zur Krippe nach Bethlehem nacherzählt. Diese Geschichte hatte ihn schon seit seiner Kindheit fasziniert: Für ihn zeugte sie von der Sehnsucht der Menschen nach Glauben, von dem Wunsch nach Versöhnung und einem Moment ewiger Hoffnung.

Buchcover von 1880

Er ergänzte diese biblische Geschichte um einen erfundenen Charakter: Judah Ben-Hur. Und somit wurde auch Jesus zu einer Romanfigur.
Erbauungsliteratur war ein fester Bestandteil des amerikanischen Büchermarkts: Predigten, religiöse Ratgeber, Bekehrungsberichte und Nacherzählungen biblischer Stoffe. Aber bisher war Jesus selbst noch nie wie ein fiktiver Charakter behandelt worden, indem man ihn mit anderen erfundenen Figuren interagieren ließ. Würde das konservative amerikanische Publikum das akzeptieren?
Wallace arbeitete vier Jahre an dem Buch, auch in seiner Zeit als Gouverneur von New Mexiko, als er Billy the Kid zur Stecke bringen sollte. Bei Tag mit Amtsgeschäften befasst, saß er nachts in einem Hinterzimmer, las und schrieb. Die meiste Zeit investierte er in die Recherche. Er sichtete zahlreiche bekannte Veröffentlichungen zum römischen Reich und Judäa in der Antike. Dennoch wich er in einigen entscheidenden Dingen von den Fakten ab: Um das Jahr 20 n. Chr. gab es keine Verurteilung zur Sklaverei auf Kriegsgaleeren im römischen Reich. Aber Wallace steigert das Drama um seinen Helden, indem er ihn über Jahre zum Ruderer auf einem Kriegsschiff macht – die Episode faszinierte so sehr, dass ein solches Schicksal noch in vielen Büchern {und Filmen} erzählt wurde, auch wenn es den historischen Fakten widerspricht. Und auch das berühmte Wagenrennen kann so kaum statt gefunden haben: Römische Würdenträger traten i.d.R. nicht als Wagenlenker an, doch sowohl Ben Hur wie auch Messala sind zu diesem Zeitpunkt der Handlung in Amt und Würden. Hätte Wallace sich jedoch an die Überlieferung gehalten, sein Buch hätte kaum Aufmerksamkeit erregt. Für ihn galt: Story vor History, das unterscheidet den {historischen} Roman vom Sachbuch.
Mit Harper&Brothers fand Wallace einen Verlag mir nationaler Reichweite. In den ersten beiden Jahren waren die Verkäufe mäßig; dann platzierte der Verlag kostenlose Leseproben in Schulen. Die jungen Leser waren vor allem begeistert von den Abenteuerlementen: die Galeerenschlacht und natürlich das Wagenrennen. Sie besorgten sich das Buch in den Bibliotheken oder, wenn es sie es sich leisten konnten, kauften ein Exemplar. Der Siegeszug von Ben Hur führte hinaus aus der Arena in die Weltöffentlichkeit.

Das Wagenrennen geht in die vierte Runde

Bald schon erhielt Wallace begeisterte Leserbriefe aus dem ganzen Land. Ihn freuten dabei besonders Rückmeldungen von den ehemaligen Kriegsgegnern im Süden. Sie konnten sich mit dem unterdrückten jüdischen Volk besonders gut identifizieren; die Geschichte einer letztlich sinnlosen Vergeltung trug viel dazu bei, die Wunden des Bruderkrieges zu heilen. Präsident Garfield bedankte sich bei Wallace für den Roman, indem er ihn zum Gesandten für das osmanische Reich ernannte. Wallace hatte so zum ersten Mal die Gelegenheit, die Stätten des Heiligen Landes mit eignen Augen zu sehen und konnte beruhigt feststellen, dass er keine Zeile in seinem Roman ändern würde.
Wie viele historische Romane fand »Ben Hur« bei der Literaturkritik keine Gnade. Es sei ein durchschnittlicher Abenteuerroman, urteilte man, zu sentimental, zu kitschig. Dem landesweiten Erfolg tat das keinen Abbruch. Bald folgte eine Theateradaption, die 1899 am Broadway Premiere hatte. Sogar das spektakuläre Wagenrennen kam auf die Bühne: Man ließ die Pferde über sich drehende Walzen laufen. Da man befürchtete, mit einem »Bühnen-Jesus« religiöse Gefühle zu verletzen, stellte man Jesus durch eine Lichterscheinung dar. Das Stück lief insgesamt 21 Jahre und tourte sogar durch Europa.
Inzwischen benannten sich sogar Orte in den USA nach Ben Hur, kein Wunder also, dass ein neues Medium auf den Stoff aufmerksam wurde: Der Film. Die erste Verfilmung erfolgte 1907, sie war 15 Minuten lang und konzentrierte sich – natürlich – auf das Wagenrennen. Allerdings hatte niemand Wallace´ Erben um die Rechte gefragt, gesetzlich gab es in Bezug auf den Film noch keine Regelungen. Wallace Sohn Henry zog vor Gericht. Der Oberste Gerichtshof der USA fällte 1911 ein für die Zukunft wegweisendes Urteil: Filme waren nicht als »Werbung« für ein Buch zu verstehen, sondern unterlagen dem Copyright für das entsprechende Buch. Kurzum: Für die Verwertung musste gezahlt werden. Henry Wallace lehnte Verfilmungen zunächst ab, weil er Filme per se für eine minderwertige Darstellungsform hielt. 1921 verkaufte er die Rechte dennoch für 600 000$. Und so galoppierte Ben Hur 1925 in einer Stummfilm-Version über die Leinwand.
Die bekannteste Verfilmung ist jedoch die von 1959 unter der Regie von William Wyler, mit Charlton Heston als Judah – Rock Hudson soll die Rolle abgelehnt haben, wegen der homosexuellen Implikationen des Stoffes. Der Film gewann 11 Oscars und wurde seitdem in vielen Pop-kulturellen Zusammenhängen zitiert: so etwa bei Donald Duck und den Simpsons. Natürlich lehnt sich auch das Wagenrennen in »Star Wars – Episode I« an Ben Hur an.
Nach Ben Hur im Serienformat kommt 2016 eine Verfilmung in 3D in die Kinos.

»Ich kann kaum glauben, dass ich all das ausgelöst habe«, soll Lew Wallace zu seinen Lebzeiten gesagt haben. Sein Buch gehörte zu den meist verkauften im 19. Jahrhundert. Es erlaubte seinen Autor ein wirtschaftlich sorgloses Leben. Viel mehr bedeutete ihm jedoch, dass er damit in den Augen der nationalen Öffentlichkeit rehabilitiert war. Sein Name wurde nicht mehr zuerst mit dem schrecklichen Tag von Shiloh in Verbindung gebracht, sondern mit einem Roman, den viele begeistert gelesen hatten und der manche zu einem tieferen Glauben geführt hatte.

Wallace starb 1905 an Magenkrebs. Seinem Leben und Werk ist ein eigenes Museum gewidmet.