Bram Stokers Dracula

Die Akte Dracula

von Ilka Stitz

Natürlich ist Bram Stokers Dracula kein »historischer Roman«, das ist klar. Aber man kann ihn durchaus als »historischen« Roman bezeichnen, als Zeitdokument des ausgehenden 19. Jahrhunderts, einer Epoche mit vielen, mitunter sehr widersprüchlichen Facetten. Kaum ein Jahrhundert steht derart unter Spannung, zwischen der Technikverliebtheit – Dampfmaschine, Telegraph, Eisenbahnen – und dem Mystizismus der Theosophie, der Verschwörungs- und sogenannter Weltverbesserungstheorien. Alles hat seinen Platz in dieser Zeit und vieles findet sich in dem Roman wieder.

Um es vorweg zu nehmen: der 1897 erschienene Dracula ist nicht nur ein großartiges Zeitdokument, sondern ebenso ein großartiger Roman und auch heute noch als Lektüre sehr zu empfehlen! Gerade in den letzten Jahren sind neue Ausgaben erschienen, wie die beiden Ausgaben, auf denen dieser Artikel beruht – zum einen die e-book-Ausgabe, die nach einer alten Übersetzung von Martin Engelmann bearbeitet wurde und im Aufbau-Verlag erschienen ist, zum anderen die sehr eindrucksvolle gebundene Ausgabe des Steidl-Verlags von 2012 {das Taschenbuch erschien 2014 bei dtv}, herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Letztere gebundene Ausgabe ist nicht allein wegen der neuen Übersetzung und des sehr viel umfangreicheren und informativen Glossars dem e-book überlegen, sondern auch wegen des ausführlichen Nachwortes, dem dieser Artikel viele Informationen verdankt.

Warum nun soll man einen alten Schinken wie Dracula heute noch mit Gewinn lesen, wenn nicht wegen des herausragenden Stils? Nun, zum einen schon wegen des spannenden Themas.

Bis heute üben Blutsaugerromane und -filme eine große Faszination aus, wenn auch der Hype derzeit etwas abgeflaut zu sein scheint.

In der Historie ist die Furcht vor Wiedergängern und Blutsaugern so alt wie der Beerdigungsritus. Pfählen, Köpfen, Tote in den Boden nageln, mit Kreuzen oder Steinen beschweren gehören zu den probaten Mitteln, verdächtige Verstorbene zu bannen. Aber sind das alles nur Hirngespinste? Tatsächlich gibt es in der Heimat Draculas, Rumänien, Menschen, die weder Sonnenlicht noch Knoblauch vertragen, zu allem Überfluss ist ihr Urin rot. Die wissenschaftliche Erklärung ist: Sie leiden an einem Gendefekt, ihre Blutproduktion funktioniert nicht ordnungsgemäß. Die naheliegende Schlussfolgerung des medizinischen Laien war allerdings: wer rotes Blut ausscheidet, muss vorher wohl Blut getrunken haben … {Giulia Enders, Darm mit Charme, S. 189}

Zurück zur Literatur. Jeder kennt den Urvater aller Vampire, doch ist Bram Stokers Dracula nicht der erste seiner Art: Polidoris »The Vampyre« erschien bereits 1819, Rymers »Varney the Vampyre or the Feast of Blood« 1847 und »Sheridan Le Fanus« Carmilla 1872. Der Text, der Stoker möglicherweise am stärksten inspiriert hat, entstammte der Feder von Guy de Maupassant. »La Horla«, eine seiner berühmtesten Erzählungen. Sie wurde bereits früh ins Englische übersetzt und könnte Stoker demzufolge bekannt gewesen sein. Es ist eine Erzählung, in der ein Ich-Erzähler in Tagebucheinträgen schildert, wie er des Nachts von einem Wesen allmählich ausgesaugt wird.

Stoker war also nicht der erste, doch sein Dracula war zweifellos weltweit der erfolgreichste. Überhaupt, Dracula … zunächst hieß der Roman »The Undead«, in letzter Minute bat Stoker seinen Verleger Constable, den Titel des Romans in »Dracula« zu ändern. Eine geniale Idee, denn in vielen Sprachen klingt in Dracula der Drache, dragone, dragon, drac an – verbunden mit der weiblichen, verharmlosenden Endung -a. Damit verweist bereits der Titel auf die Ambivalenz des gesamten Romans.

Notizen zum Roman

Sechs Jahre arbeitete Stoker an seinem »Untoten«, meist des Nachts oder im Urlaub. Das erklärt die zahlreichen Ungenauigkeiten und stilistischen Mängel. Beklagt wurde gelegentlich auch die mangelnde sprachliche Abgrenzung der verschiedenen Erzählstimmen. – Mängel, die mir ehrlich gesagt bei der Lektüre nicht aufgefallen sind – und ich bin normalerweise ein kleinlicher Leser. Geschuldet sind die Mängel dem fehlenden Lektorat. Das war zu dieser Zeit ja noch nicht üblich – heute ja leider oft nicht mehr. Doch der Übersetzer der Steidl-Ausgabe hat nach eigener Aussage diese Aufgabe übernommen und die stilistischen und logischen Mängel behutsam korrigiert. Aber wie gesagt, es ist ja nicht der herausragende Stil, nicht Stokers Sprache, die fasziniert und das Buch zum Bestseller machte, es ist die Geschichte selbst und Stokers einzigartige Erzählweise. Quelle des Ganzen ist die innovative Zeit ab dem 19. Jahrhundert, das Jahrhundert, in dem so viele wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen jeglicher Couleur entwickelt, entdeckt, erfunden oder durchgesetzt gemacht wurden, wie seit der Antike nicht mehr: die Entdeckung des Penicillins, die Entstehung der Kriminalistik, neuartige Kommunikation mittels Telefon und Telegraph, die Straßenbeleuchtung mit Gaslaternen, ebenso wie die Emanzipation der Frau. Daneben blieb aber auch stets Raum für die Mysterien des Lebens. Die Entdeckung der Hypnose erscheint wie das Verbindungsglied zwischen Wissenschaft und Mystik, zum Beispiel in Gestalt der zur Blüte reifenden Theosophie, die in diesem Zusammenhang jedoch eher als Okkultismus zu verstehen ist, wie die Lehre der Madame Blavatsky {»Eine Religion im einzig wahren und richtigen Sinne ist ein Band, das alle Menschen verbindet, nicht eine besondere Gruppe von Dogmen und Glaubensformen. Religion an sich, in ihrer weitesten Bedeutung, ist das, was nicht nur alle Menschen, sondern alle Wesen und Dinge im ganzen Universum zu einem großen Ganzen verbindet. Helena P. Blavatsky}, die mit der ursprünglichen Idee der Theosophie eines Paracelsus oder der der Kabbala kaum etwas gemein hat. {Das Thema ist sicher einen eigenen Beitrag wert …}

Ja, ich gebe dem Übersetzer der aktuellen Ausgabe, Andreas Nohl, durchaus recht: Stokers Roman spiegelt die Gegensätzlichkeit von Ratio und Irratio seiner Zeit in Form, Inhalt und dem Personal seines Romans wieder. Außer einigen wenigen Zeitungsberichten wird die Geschichte vornehmlich in Tagebucheinträgen, Briefen und Notizen verschiedener Personen vorgetragen. Als da sind die Vertreter britischer Ratio: der Jurist Jonathan Harker, der Arzt Dr. John Seward, der Adelige Arthur Holmwood und die Pädagogin Mina Harker {oder Mina Murray, wie sie vor der Ehe mit Harker heißt}. Hinzu stößt der tatkräftige Amerikaner Quincy Morris und last but not least der den diesseitigen und jenseitigen Wissenschaften, natürlichen und übernatürlichen Phänomenen aufgeschlossene Holländer Abraham van Helsing. Vereint stemmen sie sich dem epidemischen Bösen in Gestalt des Dracula entgegen. {Dracula, Steidl, S. 559}.

Der Roman präsentiert sich also eher als Stückwerk, eher als eine Akte des Bösen als eine durchgehende Erzählung. Der Leser findet eine rationale Sammlung irrationaler Ereignisse vor, die durch die akribisch und sorgfältig anmutende Dokumentation immer mehr an Wahrscheinlichkeit, an Wahrhaftigkeit gewinnt. Ja, man ist fast geneigt, die Vorgänge für möglich zu halten. Angelegt wurde diese Akte des Grauens von Mina Harker. Und damit kommen wir zu einem weiteren interessanten Aspekt des Romans, dem der Emanzipation der Frau. Zwei Frauen spielen eine Rolle in Dracula, Charaktere, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: Lucy Westenraa und Mina Murray. Lucy, die Sonne, vor deren Strahlen jede Männlichkeit die Waffen streckt – alle Männer außer Jonathan, versteht sich, sind in sie verliebt und wollen sie heiraten. Ihr gegenüber erscheint der weise Mond, die Lehrerin Wilhelmina, klug, ernst und verantwortungsbewusst. Sie ist die Verlobte des Advokaten Jonathan Harker, den sie im Verlaufe des Buchs heiraten wird. Lucy verkörpert vorbildlich das Ideal einer Frau von Adel, mit heiterem Gemüt, von vorbildlichem Benehmen und tadelloser Haltung, gebildet in der Erwartung, eine interessante Ehefrau für einen entsprechenden Gatten zu werden. Nur kommt es nicht soweit, denn Lucy wird das erste Opfer des blutrünstigen Grafen. Doch nun, da die Sonne untergegangen ist, naht die große Zeit des Mondes: Minas Stern geht auf, und repräsentiert ein neues, selbstständiges Frauenbild. Als Waise hatte sie zwar keine Wahl als selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, aber sie übernimmt die Verantwortung für ihr Leben voller Freude, Zuversicht und Tatendrang. Sie ist die ordnende Kraft in der Geschichte, ihr Dreh- und Angelpunkt. Auf den ersten Blick fungiert sie als Sekretärin der Herren, sie ist diejenige, die die Tagebücher und Notizen aller leserlich abtippt und logisch zusammenstellt. Schnell wird aber deutlich, dass sie mehr ist als eine Zuarbeiterin. Mina ist die einzige, die alle Beiträge bis ins Detail kennt – und die eigene Schlüsse daraus zieht. Ein wenig lässt sie sich mit dem Aktenführer eines Kriminalkommissariats vergleichen, der wichtigsten Person eines Kriminalfalles, und etwas ähnliches haben wir ja auch bei Dracula. Die Männer schätzen ihre Meinung und nehmen sie entsprechend ernst, allen voran van Helsing. Mehrfach benennt van Helsing den Grund seines Respekts: Frau Mina denkt wie ein Mann! Und damit sind wir dann auch schon wieder im 19. Jahrhundert angekommen. Dennoch, als Mina vom Bösen »infiziert« wird und als Medium mittels Telepathie Dracula als Informationsquelle dienen könnte, schließt man sie von den gemeinsamen Beratungen aus – und vermisst schnell ihren Rat, ihren Einfallsreichtum und ihre Logik.

Und es ist doch beruhigend zu wissen: ist das Abendland von der Invasion des Bösen aus dem Osten bedroht, steht hier längst die Phalanx der kühnen, weltoffenen Männer der Tat bereit. Sie sehen über den Tellerrand, freuen sich über jede hilfreiche Idee, nutzen moderne Technik ebenso wie altvorderen Aberglaube, arbeiten mit Telegraphen und Diktaphonen,entstauben aber auch mythische Hausmittel gegen Vampirismus: Knoblauch natürlich und Kruzifixe, geweihte Hostien, aber auch Wildrosen helfen zuverlässig. Wie es aber soweit kommen konnte, dass ein transsylvanischer Vampir in das fortschrittliche London vordringt, zu erkennen, dass auch Vampire mit der Zeit gehen und moderne Annehmlichkeiten für sich nutzbar machen, und wie man sie letztlich doch besiegen kann, das alles zu verfolgen ist einfach spannend.

Abraham Stoker wurde am 8. November 1847 in Irland geboren. Er litt seine ersten sieben Lebensjahre an einer bis heute unerklärlichen Gehunfähigkeit. Überraschenderweise erweist er sich jedoch während seiner Studentenzeit am Trinity College als führender Sportler seines Jahrganges. Schon hier zeigt sich, dass Gegensätze auch in seinem Leben von Bedeutung waren.
Zwar schlägt Stoker, wie sein Vater, eine juristische Laufbahn ein, doch letztlich obsiegt seine Liebe zum Theater. Er wird Geschäftsführer des Londoner Lyceum Theatre und persönlicher Sekretär des damals bedeutendsten britischen Schauspielers Henry Irving. Er gewinnt das Herz der bekannten Schönheit Florence Balcombe, die Oscar Wilde noch hatte abblitzen lassen.
Als Irving 1905 stirbt, ist er nicht nur menschlich tief getroffen, sondern auch finanziell werden die Zeiten schwieriger. Am 20. April 1912 stirbt Stoker »an Erschöpfung«, den Erfolg seines Romans Dracula erlebt er nicht mehr.