Verschwundene Krankheiten

Histo Journal Besprechung: Sophie Seemann – »Verschwundene Krankheiten«

Gelesen & Notiert von Maik T. Schurkus

»Verschwundene Krankheiten
Sophie Seemann

Inhalt
Gegenstand der Medizingeschichte sind Denken, Vorgehensweise und Lebenswelten von Ärzten und Patienten in ihrem historischen Wandel. Doch es gibt noch einen weiteren, mindestens genauso wandelbaren Mitspieler in dieser spannenden Dreiecksbeziehung: die Krankheit. Als naturwissenschaftlich erforschte Phänomene könnte man Krankheiten für biologische Konstanten halten, die eine wohldefinierte, fixierte Form aufweisen – doch weit gefehlt! Krankheiten können neu auftreten, ihr Wesen und ihre Relevanz innerhalb kurzer Zeiträume vollständig verändern und sogar verschwinden.

Kulturverlag Kadmos
Juni 2019
272 Seiten
ISBN 978-3-86599-300-7
EUR 26,80

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Verlages.

Wie krank ist das denn!

Wenn wir etwas dieses Jahr nicht mehr brauchen, dann sind es Krankheiten. Nichts hat uns 2020 mehr beschäftigt als Infektionswege, Hygiene, Impfungen. Es wundert also nicht, dass dieses Buch der Kinderärztin und Medizinhistorikerin Sophie Seemann auf der Shortlist zum Wissenschaftsbuchpreis in Österreich stand. Und tatsächlich ist es auch tröstlich, in einem Buch zu lesen, wie die Menschheit immer wieder den Kampf aufgenommen hat gegen Krankheit und Gebrechen und wie unser Wissen über den Körper und seine Störungen dabei gewachsen ist.
Das Buch bietet eine alphabetische Auswahl an Krankheiten von »Alpenstich« bis »Versehen«, erhebt damit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Gliederung ist leider eine Schwäche, denn es wird nicht unterschieden zwischen Krankheiten, die verschwunden sind, weil sie einer überkommenen Diagnostik angehörten {wie etwa das »Versehen«} oder weil sie ausgerottet wurden; weiterhin wird auch nicht unterschieden zwischen Infektionskrankheiten, Berufskrankheiten, Behinderungen und Modediagnosen. Der Vorteil ist aber, dass sich das Buch so recht abwechslungsreich liest und man ohne medizinische Vorkenntnisse einsteigen kann. Fachlich fundiert und trotzdem zugänglich und unterhaltsam zu schreiben ist eine Kunst, die Sophie Seemann zweifellos beherrscht. Jedem Kapitel ist eine kleine »erzählte Szene« voran gesetzt, leider nicht immer aus historischen Quellen sondern auch fiktiv gestaltet, aber so bekommt man einen lebendigen Eindruck vom Erleben der jeweiligen Krankheit.
Schon nach wenigen Kapiteln wird eines deutlich: Die größte Errungenschaft der Menschheit ist vermutlich nicht der Flug zum Mond oder das Internet, sondern die Entschlüsselung von wesentlichen Körperfunktionen und damit das Verständnis von Krankheit. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein machte man für Krankheiten ein Ungleichgewicht der Körpersäfte verantwortlich. In Zusammenfassung des antike Wissens hatte der Arzt Galen {129-199 n Chr.} neben einer ersten Systematik des menschlichen Körpers das »Säftesystem« beschrieben: Warme/ kalte Körpersäfte, zähe/ flüssige usw. Entsprechend waren die medizinischen Methoden daran ausgerichtet, Störungen dadurch zu beheben, dass man Säfte »wärmte«, überflüssige »ableitete« usw. Der Aderlass hat sich bekanntlich bis ins 19. Jahrhundert gehalten und hat seinen festen Platz in historischen Romanen als Beispiel einer eher schauderhaften Rosskur. Dabei sind nicht alle Ansätze der Säftelehre unsinnig: Die Harnschau hat sich etwa mit verfeinerten Methoden als wichtiges Instrument der Diagnostik gehalten ebenso wie die Begutachtung der Schleimhäute. Aber einer an Pocken erkrankten Person hilft ein Aderlass natürlich wenig – es sorgt eher für eine Infektion aller Beteiligten.
Um 1680 kam man auf die Idee, das Fernrohr umzudrehen und das Mikroskop war erfunden. Und mit ihm entdeckte man bald allerlei »Wimmeltiere« in Flüssigkeiten. Schnell kam die Theorie auf, dass diese »Miasmen« Menschen krank machen könnten. Jeder seriöse Mediziner tat das aber als Unsinn ab, hätte es doch bedeutet, dass Gott es erlaubte, dass die Krone seiner Schöpfung von fast unsichtbaren Tierchen dahingerafft wurde. Die Entdecker der Bakterien Ende des 19. Jahrhunderts hatten es daher schwer, sich durchzusetzen, erinnerten ihre Thesen doch an die verworfene »Miasmentheorie«. Erst als Mittel gegen Bakterien Menschen gesund machten, fand die Theorie Akzeptanz – wie man bis heute sieht, nicht bei allen. Den Impfgegnern und Infektionsleugner möchte man als »Kur« einen Monat im 16. Jahrhundert verordnen, denn eins machte Seemanns Buch deutlich: Erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts kennen die Menschen {der westlichen Welt} das Gefühl, ein gesundes Leben leben zu können. Zuvor war Krankheit ein ständiger Lebensbegleiter: Die Organe von Friedrich Schiller waren bei seinem Tod fast »verklumpt« von der fortgeschrittenen Tuberkulose; Johann G. Herder litt unter chronischen Augenentzündungen und musste sich die Tränenkanäle mehrfach mit Rosshaar durchstechen lassen. Wolfgang Amadeus Mozart starb auf der Höhe seines Schaffens am »Frieselfieber«. Der Weltreisende Georg Forster brachte ein ganzes Sammelsurium von Krankheiten mit und wurde für den Rest des Lebens von Fieberschüben, Durchfällen und Ausschlägen geplagt. Franz Schubert kostete die Syphilis den Verstand und dann das Leben.
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, um Millionen Fälle von Kindbettfieber ergänzen: Alles Krankheiten an denen heute kein Mensch mehr leiden und sterben muss. Die derzeitige Corona- Epidemie ist nur ein kleiner Einblick in die Schrecken dieser Vergangenheit, in der jeder Hundebiss der Beginn einer unheilbaren Erkrankung an Tollwut sein konnte – heute gilt die Tollwut in Deutschland als ausgerottet {kommt nur noch vereinzelt in Fledermaus-Populationen vor}, weil über Jahrzehnte Impfköder ausgelegt wurden.
Sich lesend in diese Vergangenheit zu versetzen trägt daher nicht zur Beunruhigung bei: Es macht Hoffnung, zumal manches in Seemanns Buch auch amüsant ist, wie etwa die Scherz-Diagnose »Cello-Hoden«, die dank eines glaubwürdigen Artikels zum Selbstläufer wurde. Und sie fesselt mit medizinischen Rätseln: War die »europäische Schlafkrankheit«, die Menschen im 20. Jahrhundert ins Wachkoma warf eine Folge der Spanischen Grippe? Diese Krankheit hat mit »Zeit des Erwachens« sogar einen Hollywood-Film inspiriert {einem Mediziner gelang es in den 60er Jahren, die Wachkoma-Patienten durch ein Parkinson-Mittel vorübergehend aus dem Koma zu holen} Die »Schlafkrankheit« verschwand mit den letzten Überlebenden der Spanischen Grippe, ein Zusammenhang konnte aber bis heute nicht nachgewiesen werden.
Für Autorinnen und Autoren von historischen Romanen ist das Buch »Verschwundene Krankheiten« außerdem eine nützliche Hilfestellung beim Verständnis alter Diagnosen; und vielleicht auch eine Inspiration – zarte Jungfern, die von Bleichsucht befallen werden; Ritter, die vom englischen Schweiß dahin gerafft werden und Spiegelmacher*innen, die verhaltensauffällig werden.
Trotz Corona war gesund bleiben nie so einfach wie im 21. Jahrhundert. Und wir können alle etwas dazu beitragen, indem wir den Erkenntnissen von Fachleuten vertrauen.

Fazit

Wenn man von »Verschwundenen Krankheiten« liest, fühlt man sich auch im Corona-Jahr 2020 gleich viel gesünder. Das Buch ist nicht nur ein Beitrag zur Medizingeschichte, sondern auch ein unterhaltsamer Blick in die Menschheitsgeschichte und ein Plädoyer für das Vertrauen in Impfungen und Antibiotika.