Buchbesprechung: Francis Spufford – Neu-York

Histo Journal Buchbesprechung: Francis Spufford »Neu-York«

Gelesen & notiert von Ilka Stitz

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Inhalt
»Wie ein neu entdeckter Roman von Henry Fielding mit Bonusmaterial von Martin Scorsese.« {The Times}
1746 in einer kleinen englischen Kolonialstadt an der Spitze der Insel Manhattan: Neu-York wirkt auch Jahrzehnte nach der Eroberung durch die Briten immer noch recht holländisch; die alteingesessenen Familien reden Englisch mit Akzent, am Hafen weht der Union Jack über schmalen Fachwerkhäusern, am anderen Ende der Stadt ist der Broad Way {vorher Breede Weg} auf Höhe der Wall Street durch ein Tor versperrt. Draußen hängen Skalps: Verbündete Indianerstämme haben sie französischen Soldaten abgenommen.
Eines Tages steigt ein Brite namens Smith im Regen von einem aus London kommenden Segler. Der junge Mann scheint über Geld zu verfügen, er trägt den Wechsel einer Londoner Bank mit sich. Schnell findet er Zugang zur Gesellschaft, wird er zu einer Berühmtheit in der Stadt. Leider auch bei den Falschen: Smith wird überfallen und ausgeraubt. Niemand darf von der prekären neuen Lage erfahren, das Schuldgefängnis droht. Und dann kommt Smiths Affäre mit der Frau eines hohen Offiziers ans Licht. Ein Duell ist unumgänglich, und ausgerechnet sein bester Freund fordert ihn, ein exzellenter Fechter. Doch dann nimmt das Schicksal unseres Helden eine weitere überraschende Wendung – es wird nicht die letzte sein in diesem phantastischen, geistreichen, spannenden Wunderwerk von einem Roman.

Leseprobe und weitere Informationen finden sich auf der Website des Rowohlt Verlags.

Hardcover 19,95 €
eBook 16,99 €

Von Schelmen und Kratzbürsten

Es ist das Jahr 1746, welches das zwanzigste Jahr der Regentschaft Georges II ist, als der Romanheld Richard Smith in Neu-York eintrifft. Einem kleinen Nest an der Ostküste Amerikas, wo den Neuankömmling neben einer abgebrannten Festung eine Wand mit angenagelten Skalps begrüßt. Skalps von Franzosen, freundlicherweise angeliefert von den mit den Briten kooperierenden Indianerstämmen. – Wenn der Leser denn soweit kommt, denn die erste Hürde, die sich ihm in den Weg stellt, ist der erste Satz, der zunächst überwunden werden will. Er erstreckt sich über die erste Seite hinaus, wenn auch nur geringfügig. Immerhin eine Herausforderung, der die Leser heutzutage nicht häufig begegnen. So gesehen jedoch knüpft der Roman schon ab der ersten Seite stilistisch an die Abenteuer- und Schelmenromane des 18. Jahrhunderts an. Und eben das war auch das Bestreben des Autors, nämlich ein »koloniales Gegenstück zu Henry Fieldings ›Geschichte und Abenteuer von Joseph Andrews‹ oder zu dem Roman seiner Schwester Sarah Fieldings ›Die Begebenheiten David Simpels‹ zu schreiben.

Schon auf den ersten Seiten lernt der Leser den Helden Richard Smith kennen, ein junger Mann, von überschäumenden Temperament und dubioser Vergangenheit, der nicht auf den Mund gefallen ist. Smith kommt per Schiff aus London und findet in Neu-York einen Kosmos vor, wie er im Vergleich zu seiner britischen Heimat nicht unterschiedlicher sein könnte. Mit seinen Augen durchschreitet der Leser die Stadt auf der von drei Flüssen umschlossenen Insel Manna-hata. Alles wirkt fremd, auf Smith gleichermaßen wie auf den zeitgenössischen Leser. »In London hätte nie ein Händler seine Äpfel vor der Tür des Bürgermeisters angepriesen, hätte nie ein Goldschmied sein Geschäft neben einem kümmerlichen Laden für Seemannsbedarf eröffnet. Neben solch unerwarteten Präsenzen gab es indes auch allerhand, was fehlte. Aus guter Großstadt-Gewohnheit hatte Smith sein Hirn angewiesen, alle Reizungen der Nase zu missachten, sodass es eine Weile dauerte, bis dieses Hirn bemerkte, dass es kaum etwas zu missachten gab. Die Ausdünstungen der Skalps waren noch das Garstigste am Bouquet Neu-Yorks. Ein wenig Fisch, ein wenig Exkrement; ein paar Eingeweide hier, etwas Kot dort, doch keine tiefe Patina aus Schmutz, kein kloakaler Regenbogen in den Brauntönen der Kanalisation. ›Großstadtleben‹, meldeten Smiths Augen. ›Landpartie am Meer‹, widersprach die Nase. Keine Gerüche und auch keine Bettler …« {S. 35}. Und schon erscheint vor dem geistigen Auge des Lesers ein Bild dieses von einer frischen Meeresbrise durchwehten Kolonialstädchen, das zu dieser Zeit zum einen von Briten, zum anderen von Niederländern geprägt wird. Letztere sind durch ihre Handelskontore sowie durch die typisch niederländische Architektur im Stadtbild sehr präsent.

Gemeinsam mit einem allwissenden, aber wenig preisgebenden Erzähler, schreitet der Leser an der Seite Smith zum einen durch die Gassen des Städtchens und zum anderen in der Handlung fort. Dabei wird er nach und nach Zeuge von mehreren Schicksalsschlägen, die Smith heimsuchen und das Erreichen seines Zieles – worin auch immer dies bestehen mag – in weite Ferne rücken lassen.

An den Wendungen seines Schicksals ist Smith selbst jedenfalls nicht ganz unschuldig, umgibt er sich doch von Anfang an mit einer Aura des Geheimnisvollen. Bei manchen Beziehungen mag dieser mysteriöse Eindruck von Vorteil sein, nicht jedoch bei solchen geschäftlicher Art, wie Smith sie vorhat. Dies muss er direkt nach seiner Ankunft erkennen, als er in dem Kontor von Lovell & Company auf der Golden Hill Street einen Wechsel über tausend Pfund einlösen möchte. Ein Wechsel in solcher Höhe, ohne entsprechende Ankündigung oder persönliche Note des ausstellenden Hauses, ist ein nie dagewesener Vorgang! Natürlich hält man ihn für einen Betrüger. Immerhin, man sichert ihm zu, den Betrag nach bestandener ausgiebiger Prüfung innerhalb der nächsten sechs Wochen auszuzahlen. Sechs Wochen, in denen sich Smith den Annehmlichkeiten der Stadt hinzugeben gedenkt, denn das Handgeld, das er bei sich trägt, ist großzügig bemessen. Da Hartgeld in Neu-York rar ist, erhält Smith zunächst eine bunte Mischung an Silbermünzen aus aller Welt. Längst nicht genug als Gegenwert für Smith‘ vier Goldmünzen. Und so »…begann Lovell, einen Stapel knittriger, gefalteter Zettel neben das Silbertürmchen abzuzählen, manche schwarz bedruckt, manche rot und manche braun, beinah wie aus einem Gebetbuch ausgerissene Seiten, wären sie nicht an Form und Größe so verschieden gewesen; einige schlaff und eingerissen, andere lederig verfettet, manche nur mit kruden Lettern gemarkt, wieder andere mit Wappen verziert, mit blasenden Walen, Sternschnuppen, Federn, Laub und nackten Wilden.« {S. 21} Längst genügt der Vorrat an diesen geldwerten Papieren nicht, die Lovell in seinem Kontor verwahrt, und er bittet Smith in seine Privaträume. Und dort nimmt das Schicksal nun seinen weiteren Lauf, in Gestalt von Lovells älterer Tochter Thabita. Wie Smith am eigenen Leib erfahren muss, ist sie der Schrecken der Familie: Eine wortgewaltige, eloquente Kratzbürste, die einen jeden provoziert, und mit ihren Beleidigungen Freund und Feind gleichermaßen vor den Kopf stößt. Damit ist sie für den Abenteurer Smith geradezu eine Herausforderung.

Der Leser steht von Anfang an auf der Seite des Helden, ohne ihn näher zu kennen oder um seine Herkunft zu wissen. Ist er wirklich ein ehrenwerter Geschäftsmann, oder doch eher ein Hochstapler und Betrüger? Einerlei. Denn mit seiner Einführung in die Neu-Yorker Gesellschaft kommt dieser Abenteuer- und Schelmenroman nun so richtig in Fahrt. Nunja, Fahrt ist ein relativer Begriff, denn das Erzähltempo dieses Romans gleicht eher dem eines Wanderers auf verschlungenen Pfaden. Doch wie gern man mit Smith durch die Straßen und Gassen schlendert! Und dabei ganz beiläufig seine Beobachtungen aufsaugt und damit ein Stück Stadtgeschichte lernt aus einer Zeit, als Neu-York noch ein Dorf war, in dem jeder jeden kannte. Von Vorteil, wenn man genötigt ist, auf Pump zu leben, doch fatal, wenn man wie Smith aus Unkenntnis, oder Unbedarftheit, einen faux pas nach dem anderen begeht. Schritt für Schritt versinkt der Held tiefer in den Sumpf der sozialen Verflechtungen und Verleumdungen, die aus Freunden schnell Gegner oder sogar Feinde werden lassen, wenn letztlich nur das geschäftliche Interesse zählt.

Fazit

»Neu-York« ist ein klassischer Schelmenroman, wie es ihn heutzutage kaum noch gibt. Der Roman kommt ebenso wie sein Held Richard Smith wunderbar unbekümmert und leichtfüßig daher. Die Sprache mit ihren sich windenden Schachtelsätzen ist zwar anfangs eine Herausforderung, doch wegen der überbordenden Fabulierlust des Autors gleichermaßen ein Quell der Freude. Der Autor legt einen Blick für Details an den Tag, der in dieser Form selten ist und das Buch ungeheuer bereichert. Insgesamt ist der Roman äußerst unterhaltsam und voller Spannung und Überraschungen. Er wirkt authentisch, ohne altbacken zu sein. Von der ersten bis zur letzten Seite ist dieser Roman pures Lesevergnügen, fesselnde Unterhaltung mit Niveau und Humor.