Margos Töchter

Histo Journal Besprechung: Cora Stephan – »Margos Töchter«

Gelesen & Notiert von Ilka Stitz

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Inhalt
Jeder Mensch hat eine Mutter. Jana Seliger hatte zwei.
Cora Stephan erzählt die Geschichte zweier außergewöhnlicher Frauen und eines geteilten Landes über vier Jahrzehnte. Ein großer Roman über die Suche nach dem Glück in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und die Frage, was man opfern muss, um es zu finden. Leonore Seliger wächst in den 1960er-Jahren in der norddeutschen Provinz auf. Sie ist eine Außenseiterin, unangepasst, rebellisch. Trost findet sie bei Clara, einer Brieffreundin aus der DDR, die sie in einem Pioniercamp der DDR getroffen hat. In einem verrauchten Jugendclub in Osnabrück lernt Leonore die Musik der Beatles kennen, nach dem Abitur in England die freie Liebe. Während sie im Deutschen Herbst in Frankfurt studiert und durch eine verhängnisvolle Affäre ins Visier der Polizei gerät, bereitet sich Clara in Ostberlin auf eine große Aufgabe vor. Im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit soll sie in den Westen gehen, um dort für die Genossen die Augen aufzuhalten. Kurz bevor sie die DDR verlässt, bekommt sie eine Tochter und ist gezwungen, eine nahezu unmögliche Entscheidung zu treffen. Das Schicksal führt Leonore und Clara wieder zusammen. Die beiden, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet ein Geheimnis. Jahrzehnte später kommt eine junge Frau diesem Geheimnis auf die Spur und begibt sich auf eine aufwühlende Reise in die Vergangenheit.

Kiepenheuer & Witsch
Gebundene Ausgabe ab 07.05.2020
Preis: 22,00 Euro
eBook ab 08.04.2020
Preis: 16,99 Euro

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des KiWi Verlags.

Jeder Mensch hat eine Mutter. Jana Seliger hatte zwei.

Wer ist diese Margo überhaupt um deren Töchter es in diesem Roman geht? Die Leserinnen von »Ab heute heiße ich Margo« wissen es bereits. Die übrigen aber sollten sie kennenlernen. Allerdings mindert die Unkenntnis nicht den Genuss, den die Lektüre von »Margos Töchter« bereitet. Auch diesmal widmet sich Cora Stephan wieder einem Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, dem zwischen deutschem Herbst und Mauerfall, und dessen Auswirkungen bis heute.

Zwei Frauen, Leonore und Clara, sind die Hauptfiguren. Doch nein, eigentlich sind drei Frauen die Protagonisten dieses Romans, denn Schlüsselfigur ist Jana, Leonores Adoptivtochter. Sie zweifelt an dem angeblichen Selbstmord ihrer Adoptivmutter, die vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Vorfall lässt sie nicht los, und sie beginnt über die Umstände von Leonores Tod nachzuforschen.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang mit einem Antrag auf Akteneinsicht in Unterlagen des Ministerium für Staatssicherheit (MfS), den Jana gestellt hatte, um mehr über ihre Adoptivmutter Leonore Seliger zu erfahren. Und über ihre leibliche Mutter Clara. Die stammte aus der DDR und war als Häftling vom Westen freigekauft worden.

Wer sind ihre Mütter, die leibliche, die sie nicht kennt, und die Adoptivmutter, die sie liebte? Was haben die beiden miteinander zu tun, und was mit der Stasi? Immer tiefer dringt sie in die Lebensgeschichten der beiden Frauen ein, die im kleinen auch die große deutsche Geschichte nachbilden. Und wie die Zeit die Menschen, die in dieser Zeit leben, beeinflusst.

Zum einen Leonore, Kind des Westens. Ihr Credo ist peace, love and happiness. Musik, Drogen und freie Liebe verheißen Freiheit und das pralle Leben, hinterlassen aber auch unauslöschliche Spuren an Körper und Seele.

Auf der anderen Seite, im wahren Sinne des Wortes, entwickelt sich Clara in der DDR zu einer aufrechten Parteigenossin, die ihr eigenes Leben für den Sozialismus zu opfern bereit ist.

Und nicht zu vergessen: Es ist die Zeit des Kalten Krieges, und es ist die Zeit, die als Deutscher Herbst in die Geschichte eingegangen ist. Die RAF verbreitet Angst und Schrecken in der Bevölkerung, aber ebenso prägend ist der Schrecken, den der Staat mit seinen Anti-Terror-Maßnahmen verbreitet. Erinnerungen werden wach, an Sympathisanten, und an das Gefühl von Angst und Ohnmacht, vor dem Terror ebenso wie vor der Polizeiwillkür. Viele dieser Generation werden sich erinnern.

Es ist die große Stärke der Autorin mit wenigen Worten einen ganzen Kosmos vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen.

Auch Cora Stephan ist damals dabei gewesen, das spürt man bei jedem Detail. Ihr gelingt es auch in diesem Roman, mit präziser, knapper Sprache das Lebensgefühl dieser Zeit zu wecken. Sei es die überbordende Lebenslust der Hippy-Generation, sei es das bedrückende Klima der Angst, durch Terror oder Staatswillkür, im Osten wie im Westen.
Ihre beiden Protagonistinnen, die unterschiedlicher nicht sein können, in ihrer Persönlichkeit und den Lebensumständen, repräsentieren ein Stück dieser deutsch-deutschen Geschichte. Cora Stephan entwirft dafür kein schwarz-weiß Szenario, sondern erschafft ein buntes Sittengemälde, sie unterteilt nicht in gut und böse, sondern erzählt ihre Geschichte anhand glaubwürdiger Menschen, mit Stärken und Schwächen – eben lebensechter Personen. Denn bei allen Unterschieden zwischen den Protagonisten, die die unterschiedlichen Wertesysteme von Ost und West verinnerlicht haben, werden die Figuren jedoch nie eindimensional. Sie wachsen heran, wandeln sich, entwickeln sich, Meinungen und Überzeugungen verstärken sich, oder geraten ins Wanken. Wie immer in der Geschichte, wie immer im richtigen Leben.

Fazit

Der Roman erzählt eine bewegende und bewegte Geschichte zwischen Ost und West. Er ist Familienroman und Zeitdokumentation zugleich. Die Lektüre ist nicht nur unterhaltsam, sondern es ist auch äußerst spannend, ihre Heldinnen auf ihrem jeweiligen, einerseits unterschiedlichen, andererseits wiederum ähnlichen Lebensweg zu begleiten, auf der Suche nach ihrem Sinn des Lebens. Und obendrein erfährt der Leser, die Leserin noch viel über die Aktivitäten der Stasi im Osten, aber auch im Westen. Selbst bei jenen, die diese Zeit noch aus eigenem Erleben kennen, und glauben schon alles zu wissen, weitet sich der Horizont sicherlich noch um eingehende Erkenntnisse der politischen Entwicklungen, die schließlich zu dem Deutschland führten, wie es heute ist.
Überzeugend und differenziert zeichnet Cora Stephan ihre Figuren, begründet ihr Handeln und Denken, bettet sie ein in die herrschenden Systeme, in das herrschende Lebensgefühl. Und dies nicht weitschweifig herbei philosophiert, sondern auf den Punkt erzählt. Und gerade dies ist die große Stärke der Autorin, nämlich mit wenigen Worten einen ganzen Kosmos vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen, einerlei, ob es sich nun um die Atmosphäre eines Friedhofs, um politische Diskussionen in der WG-Küche, die erste Liebe oder eine Polizeirazzia handelt. Der Leser, die Leserin ist mitten im Geschehen. Somit ist das Buch angesichts prallen und faktenreichen Inhalts tatsächlich vergleichsweise schmal, mit seinen knapp 400 Seiten.
Zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass die Lektüre des Vorgängerromans »Ab heute heiße ich Margo«, für das Verständnis dieses Romans zwar nicht nötig, aber unbedingt zu empfehlen ist.

Die Autorin

Cora Stephan ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Historikerin. Sie hat zahlreiche Sachbücher verfasst, darunter »Der Betroffenheitskult« {1993}, und im Zusammenhang mit dem Artikel von Bedeutung: »Das Handwerk des Krieges« {1998}. Ihr aktuellstes Werk ist »Angela Merkel – Ein Irrtum« {2011}. Cora Stephan wohnt mit drei Katzen in Oberhessen und in Südfrankreich. Unter dem Pseudonym Anne Chaplet veröffentlicht die Autorin Kriminalromane, 2012 erschien mit »Erleuchtung« ihr zehnter Roman.

»Ab heute heiße ich Margo« {Kiepenheuer & Witsch 2016}

▹ Buchbesprechung »Ab heute heiße ich Margo« lesen

Website Cora Stephan

Blog der Publizistin und Autorin