Die Gleichung des Lebens

Histo Journal Besprechung: Norman Ohler – »Die Gleichung des Lebens«

Gelesen & Notiert von Alessa Schmelzer

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Inhalt
Friedrich der Große, der Mathematiker Leonhard Euler und die Trockenlegung des Oderbruchs.

Inhalt
Sommer 1747. Friedrich II. will das unwegsame, von aufsässigen wendischen Fischern bewohnte Oderbruch in Ackerland verwandeln. Das Mathematikgenie Leonhard Euler soll die nötigen Berechnungen durchführen. Doch als ein Ingenieur des Königs ermordet wird, verliert sich Euler in diesem preußischen Amazonien, das dem Untergang geweiht ist, sich aber mit allen Mitteln wehrt.
Friedrich II. will die Sumpfgebiete östlich von Berlin trockenlegen, um dort Flüchtlinge anzusiedeln. Wo noch Fische, Schildkröten und Wasservögel in überwältigender Artenvielfalt leben, sollen Kühe grasen und die Kartoffel wachsen. Es ist die Zeit vor der gewaltigen Johanniflut, die das Bruch wie seit Urzeiten überschwemmen wird. Unter den Fischern herrscht Unruhe, sie fürchten den Untergang ihrer Welt. Als der Ingenieur Mahistre tot am Oderstrand angetrieben wird, übernimmt Leonhard Euler die Ermittlungen und gerät plötzlich selbst ins Visier. Nur die Begegnung mit Oda, der Tochter des Anführers der Wenden, kann sein Leben noch retten.
Ein hervorragend recherchierter, atmosphärisch dichter Roman mit einer erstaunlichen Vielfalt an Figuren und Stimmungen: Vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts entsteht ein Tableau um Verdrängung, Angst vor dem Fremden und Kolonialisierung, das wie ein Spiegelbild unserer Gegenwart wirkt.

Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04968-8
416 Seiten, gebunden mit SU
Preis: 22,00 Euro
Mit historischen Karten im Innenteil

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Kiepenheuer & Witsch Verlages.

Ein fallender Apfel für Euler

Eulers Leben in Berlin könnte so schön sein, wären da nicht die exponierten Gestaltungswünsche Friedrichs des Großen. Letzterer beschließt im Sommer des Jahres 1747 einen alten Plan seines Vaters in die Tat umzusetzen. Am Geld – hier erhebt sich der Sohn über den mächtigen Vater – soll es dieses Mal nicht scheitern. Wo wendische Fischer (tendenziell aufsässig und insgesamt abergläubisch, von Vorahnungen und dergleichen beseelt) seit vielen Jahrzehnten leben und ihrem Handwerk nachgehen, dort soll, das ist Friedrichs dringlichster Wunsch, nun Ackerland für den Erdapfel entstehen. Ein kühner Plan, denn im Oderbruch soll es nicht länger um den Fischfang, sondern um die Kartoffelernte gehen. Er hatte also Großes im Blick, anno 1747; vor allem die Mehrung seines Ruhmes. Er wollte Andersgläubige und Flüchtlinge aus dem Süden im trockengelegten Oderbruch ansiedeln, winkte mit Steuererleichterungen und mehr. Letztlich bedeuten mehr Einwohner eines Landes, mehr Soldaten, fand Friedrich. Und Soldaten brauchte er sowieso.
Überschwemmungen hatte es in diesem Bereich immer gegeben und die ›Ureinwohner‹ des Landstriches konnten damit {und mit dem Gräßlichen Sumpffieber} umgehen. Angesichts der angelegten Deiche und Drainagen veränderte sich das natürliche Gefüge jedoch, so dass die Überschwemmungen bedrohlicher wurden {und es heute ja immer noch sind}.
Der Gelehrte Euler, ein Genie auf seinem Gebiet, soll es richten, respektive alles Notwendige berechnen, damit das Vorhaben auch gelingen kann. Das birgt Konfliktpotential – und richtig: die ehrgeizigen Pläne des preußischen Flötenspielers versetzen die Fischer in helle Aufruhr. Was soll aus ihnen werden? Sie sind schließlich Fischer, kennen ihr Land als wäre es ihre zweite Haut und so soll es auch bleiben … 

Landwirtschaft – die höchste aller Künste

Derlei Befindlichkeiten interessieren Friedrich nicht. Seine einfache wie klare Antwort lautet: »Der Deutsche soll kein unberechenbarer Fischer sein, sondern ein ehrlicher Bauer. Landwirtschaft«, so findet er, »ist die höchste aller Künste.« {S. 59}
Damit die Wandlung ›vom Fischer zum Bauern‹ funktioniert, soll Leonard Euler, er ist ein hochangesehener Mathematiker jener Zeit, Friedrich hatte ihn extra nach Berlin geholt, die Aufgabe ›Trockenlegung des Oderbruchs‹ in die Wege leiten.
Wie eingangs angedeutet, ist Euler über diese ihm zuteil werdende ›Ehre‹ wenig begeistert. Erstens hat er wenig Muße sich von seinem Schreibtisch fortzubewegen. Zweitens findet er das Ansinnen des Königs unsinnig, weil in seinen Augen unrentabel. Vom Eingriff in die Natur inklusive der Zerstörung des Lebensraumes etlicher Arten einmal abgesehen. Doch Friedrich ist unbeirrbar. Immerhin ist Friedrich der König und Euler nur ein Mathematiker, der von ersterem abhängig ist. Deshalb begibt sich letzterer auf die beschwerliche Reise, um Friedrichs Auftrag auszuführen. Der Leser begleitet Euler, den Ohler in diesem Roman eine Wandlung durchlaufen lässt, denn der Mathematiker und auf Zahlen ausgerichtete Mann, erkennt mit einem Mal die Schönheit der Natur. Mit eigenen Augen sieht und begreift er die Artenvielfalt im Tier- und Pflanzenreich und zweifelt immer stärker an der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit. Ist eine Gleichung nicht nur dann sinnvoll und erhaben, wenn die Summe auf beiden Seiten gleich ist? Wozu Friedrich der Große ihn nötigt ist das Gegenteil.
Im Labyrinth des Oderbruchs verliert sich Euler beinahe. Konfrontiert mit in ihrer Lebenswelt bedrohten Wenden, deren Angst um ihre Zukunft greifbar zu spüren ist, und ihren rivalisierenden Familien, ein ungeduldiger König, dessen Denken sich um die Mehrung seines Ruhmes dreht, preußische Adlige, deren Gedanken auf das eigene Wohl fokussiert sind – und überdies Intrigen, wohin das Auge reicht. Kaum in besagtem Gebiet angekommen, beginnen auch schon die Probleme. Der Tod des Ingenieurs Mahistre ist nur der Anfang. Euler, der vor allem rechnen will, muss bald schon um sein eigenes Leben fürchten …

Fazit

Norman Ohlers ›Die Gleichung des Lebens‹ ist ein feinsinniger Roman über die Hybris der Menschen. In seiner klaren Sprache entspannt der Autor eine spannende Mixtur aus Fiktion und wahrer Geschichte. Was als beschauliche Geschichte begibt, gewinnt rasch an Tempo und führt als literarische Zeitreise zurück an den Hof Friedrichs des Großen. Lesenswert, unterhaltsam und lehrreich zugleich. Das fein gestaltete Kartenmaterial rundet das Leseerlebnis ab.

Der Autor

autorin kenah cusanit
Foto: © Kiepenheuer & Witsch Verlag

Norman Ohler, 1970 geboren, ist der Autor von vier von der Presse gefeierten Romanen und zwei Sachbüchern. Sein erster Roman »Die Quotenmaschine« erschien 1995 zunächst als Hypertext im Netz und gilt als weltweit erster Internet-Roman. »Mitte« (2001) und »Stadt des Goldes« (2002) komplettieren seine Metropolentriologie. 2015 erschien »Der totale Rausch« über die kaum aufgearbeitete Rolle von Drogen im Dritten Reich. Es wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und stand auf der Bestsellerliste der New York Times. Paramount hat eine Option auf die Filmrechte erworben. 2017 erschien Ohlers historischer Kriminalroman »Die Gleichung des Lebens«, der mit lebendigem Zeitkolorit das 18. Jahrhundert wiederauferstehen lässt.

Informationen zum Autor auf der Website des Verlags.