Buchbesprechung: Christoph Ransmayr – Cox oder der Lauf der Zeit

Histo Journal Buchbesprechung: Christoph Ransmayr »Cox oder der Lauf der Zeit«

Gelesen & Notiert von T.M. Schurkus

Cover Cox

Inhalt
Ein farbenprächtiger Roman über einen maßlosen Kaiser von China und einen englischen Uhrmacher, über die Vergänglichkeit und das Geheimnis, dass nur das Erzählen über die Zeit triumphieren kann.
Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.

Christoph Ransmayr
Cox
oder Der Lauf der Zeit Roman
Hardcover
Preis: (D) 22,00 Euro | (A) 22,70 Euro
ISBN: 978-3-10-082951-1

Eine Leseprobe finden Sie auf der Website des Fischer Verlages.

Seide und abgeschnittene Nasen

Die Zeit ist nicht absolut, sie ist relativ, das wissen wir spätestens seit Einstein. Unter bestimmten Bedingungen des Universums verlangsamt oder beschleunigt sich ihr Verlauf, etwa in der Umgebung oder dem Inneren eines Schwarzen Lochs. Und mancher Spaßvogel mag dem hinzufügen, dass jeder Zahnarztbesuch wie ein Schwarzes Loch ist: Man bewegt sich viel zu schnell darauf zu und dann, zwischen Spritze und Bohrern, will die Zeit nicht mehr vergehen.

Alle Lebewesen sind der Zeit unterworfen – unsere Zellen sind selbst Uhrwerke – alle Lebewesen? Nein, es gibt einen Herrscher im fernen China, der sich »Herr über die Zeit« nennt. Und dieser Kaiser von China ruft am Ende des 18. Jahrhunderts den englischen Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof und beauftragt ihn, Uhren zu bauen, die das relative Zeitgefühl des Menschen wiedergeben, die also nicht das physikalische sondern das emotionale Maß nehmen. Cox reist mit drei Gehilfen in das ferne Reich und stellt sich der Aufgabe.

Zum Glück verzichtet das Buch weitgehend auf museale Details des Uhrenbaus, man wird nicht mit Ausführungen über den technischen Stand der Feinmechanik anno 1780 behelligt; statt dessen wird man in eine phantastische Welt geführt, deren Gesetze und Sitten fremd und bedrohlich sind, faszinierend und undurchschaubar. Man erlebt mit den Figuren die Verbotene Stadt als einen Irrgarten {was sie baulich auch ist}: Geometrisch streng und unverrückbar in der Zuweisung der Rollen und doch verwirrend und letztlich völlig sinnlos.

Ransmayrs Kaiserhof ist kein kulturhistorisches Dokument sondern eine Parabel: Ähnlich wie Kafkas Schloss wird dieser Ort beherrscht von Regeln, die sich wie Lebewesen fortpflanzen, und je mehr sie ihren Sinn verlieren, desto strenger werden sie. Man fürchtet in jeder Szene um die Uhrmacher aus England, die in ihrer Werkstatt Gäste und Gefangene zugleich sind. Sie sind Schauspieler in einem absurden Stück, die nur dürftig über ihre Rollen in Kenntnis gesetzt werden. Jeder Hofbeamte könnte das Urteil zur Hinrichtung überbringen oder eine neue Gunstbezeugung des Kaisers.

Die Leute aus dem Westen stellen dieses System nicht in Frage.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert war China »in«. Man gestaltete sich Salons im fernöstlichen Stil, und in den Traktaten waren China oder Japan Orte, die man mit idealisierten oder mahnenden Gegenbildern zu den europäischen Herrschern besetzte {und so die Zensur umging}. Ransmayr geht einen ähnlichen Weg: Nicht den des Historikers, nicht den Weg der Fakten sondern den der Symbole. Er erzählt keinen Clash-of-Cultures am Beginn des europäischen Kolonialismus. Die Engländer finden sich mit ihrer Unterlegenheit ab, beeindruckt von dem Reichtum der Materialien, von Diamanten bis Quecksilber und beeindruckt von der Fülle einer Jahrtausende alten Kultur. Ransmayr findet dafür eine opulente Sprache, die in Seide, Blüten und Lackmalereien schwelgt, aber auch in drastischen Hinrichtungsszenen, in abgeschnittenen Nasen und abgezogener Haut. Als Leser gerät man in einen Bilderrausch und ergibt sich, ähnlich wie die Figuren, bereitwillig. Es hat sicher nie eine schönere Hofdame gegeben, als die, die Cox anhimmelt; es hat nie einen verschneiteren Winter gegeben als den im kaiserlichen Sommerpalast und nie einen geheimnisvolleren Ort als die Verbotene Stadt. Und dennoch wird geschickt jeder Exotik-Kitsch vermieden, man denkt nicht an den Chinesen um die Ecke sondern an Bertoluccis Verfilmung von »Der letzte Kaiser«.
Die leicht historisierte Sprache hat aber auch Kritiker auf den Plan gerufen: Müssen es immer »Schlachtrösser« statt Pferde sein? Muss man schreiben »Ihn fror nicht«, statt »Er fror nicht«? – also die immer gerne diskutierte Frage: Müssen historische Stoffe in einer anachronistischen Sprache aufbereitet werden? Historische Stoffe vielleicht nicht; aber einem Ort, in dem es Gebäude wie die »Halle der himmlischen Harmonie« gibt, kann man sich nicht mit einer Sprache annähern, in der Tee nur ein Getränk und kein Fluidum ist.

Eine Warnung noch für alle, die aus historischen Romanen etwas über Geschichte lernen wollen: Sie sollten das Nachwort zuerst lesen. Einen Alister Cox hat es nie gegeben, nur einen James Cox, der zwar Uhrmacher war, aber nie in China.
Den Kaiser hat es gegeben, er sammelte auch Uhren, aber er hat wohl nie einen englischen Uhrmacher empfangen.
Der Kaiser dieses Romans ist eine mythische Figur, im Verständnis seiner Kultur ein Gott, und Ransmayr gelingt es, seine Geschichte um dieses Zentrum der Gnade und der Willkür zu entwickeln – in der Figur Qiánlóng nimmt die Zeit selbst Gestalt an. Als Leser hinterfragen wir seine Handlungen nicht, und ähnlich wie die Figuren messen wir ihn nicht an uns bekannten Maßstäben, es fällt uns sogar schwer zu glauben, dass er einfach so durch eine Tür spazieren kann.
Hier irrt der Autor also ein wenig im Nachwort, wenn er sagt, dass dieser Kaiser keine Figur unserer Zeit ist. Er ist zeitlos, er ist die Kraft, die ohne Begründung gibt und nimmt.

Fazit

Die Zeit und die Vergänglichkeit – zu große Themen für ein Buch, zu abstrakt um zu fesseln? Nein. »Cox und der Lauf der Zeit« ist unbedingt lesenswert! Ein Buch über das man die Zeit vergisst.

Der Autor

Christoph Ransmayr FotoFoto: © Magdalena Weyrer

Christoph Ransmayr, wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹, ›Die letzte Welt‹, ›Morbus Kitahara‹, ›Der fliegende Berg‹ und dem ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹ erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter ›Damen & Herren unter Wasser‹, ›Geständnisse eines Touristen‹, ›Der Wolfsjäger‹ und ›Gerede‹. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band ›Bericht am Feuer‹. Für seine Bu¨cher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne. Zuletzt erschien der Roman ›Cox oder Der Lauf der Zeit‹.