Rebecca Gablé

Historisches zu »Der König der purpurnen Stadt«

In diesem Interview erzählt die Autorin Rebecca Gablé vom englischen Wollhandel, der Liebe eines Königs zu seiner Königin und unkeuschen Mädchen.

von Alessa Schmelzer

Histo Journal: Zu Beginn des Prologs konfrontierst du deine Leserinnen und Leser mit Richard de Bury, dem ausgesprochen bibliophilen Bischof von Durham von 1333 bis 1345. Er verfasste mehrere Werke, darunter auch »Philobiblon«, welches er kurz vor seinem Tod 1345 beenden konnte. Darin ist u.a. dieser schöne Satz zu lesen: »In books I find the dead as if they were alive […]«. {1}

Der Ausschnitt aus dem Prolog:
»Das sieht dem Bengel ähnlich«, knurrte Richard de Bury. […] Der alternde Gelehrte zog seinen feinen Wollmantel fester um sich […].« {2}
Gleichwohl verdeutlicht diese Szene, welches Personal und welches Abenteuer die Leser in »Der König der purpurnen Stadt« erwartet: u.a. Edward III. {›der Bengel‹} sowie der Kaufmann Jonah Durham, der gemeinsam mit der Königin Philippa die Tuchproduktion Englands revolutionieren wird {Durham u. Wollmantel}.

Habe ich nun zu viel des Guten in diese ersten Zeilen gesponnen?

Rebecca Gablé {RG}: Ja, ich fürchte :-)  Der Prolog sollte vornehmlich zwei Funktionen erfüllen: Die politischen Rahmenbedingungen erklären, unter denen die eigentliche Romanhandlung beginnt – also den Staatsstreich- artigen Machtwechsel von Isabella und Mortimer hin zu Edward III., und zum anderen muss ein Prolog spannend sein und die Neugierde der LeserInnen auf die weitere Handlung wecken. Dafür eigneten sich die Ereignisse vom Oktober 1330 besonders gut. Das Richard de Bury seinen Wollmantel fester um sich zieht, sollte nur veranschaulichen, dass a} es eine kalte Herbstnacht und b} er ein alter Bücherwurm ist.

Histo Journal: »Du glaubst wirklich, jeder Mann träumt davon, ein wahrer Ritter zu sein, nicht wahr?«, {3} fragt Philippa im Roman ihren Ehemann Edward III. und trifft damit wohl des ›Pudels Kern‹. Auch wenn vielen gleich die Sage von König Artus und den Rittern der Tafelrunde in den Sinn kommen mag… Warum nahm das Ritterideal einen so hohen Stellenwert in Edwards Denken ein, bestimmte sein Handeln? Und was sind eigentlich die Ideale eines Ritters und wo haben sie ihren Ursprung?

»Ich hab‘ mich schon so manches Mal gefragt, wie viele Frauen bei der Herstellung ihres Witwenstands nachgeholfen haben…«

RG: Das Ritterideal des Hochmittelalters ist sehr facettenreich und in wenigen Worten schwierig zu umreißen, aber körperliche Tüchtigkeit und Waffentechnik, Frömmigkeit, Schutz der Schwachen, Ehre und natürlich Minne gehörten zu den tragenden Säulen, und dieses Ideal hat sehr viel mit König Artus zu tun. Genauer gesagt, mit der Rezeption der französischen Artus-Dichtung aus dem 12. Jahrhundert, deren wichtigster Vertreter wohl Chrétien de Troyes war. Es war also in erster Linie ein literarisches Ideal, welches sich in der deutschen Dichtung in den großen Epen wie Tristan oder Parzival {beides übrigens Artus-Geschichten} niederschlug. Auch in der englischen Literatur gab es unzählige Adaptationen, allerdings mit einiger Verzögerung so in etwa ab dem 14. Jahrhundert, weil die französische Literatur vorher am englischen Hof im Original rezipiert wurde. Eine zweite literarische Gattung, die das Ritterideal mit geprägt hat, war die Troubadour- Lyrik und der sich daraus entwickelnde Minnesang. Schon der erste Plantagenet-König Henry II. und seine Frau Eleonore von Aquitanien brachten diese Literatur mit aus ihrer französischen Heimat nach England. In ihrer Tradition stand auch Edward III. Nun war allerdings sein Vater, der unglückselige Edward II., das komplette Gegenteil eines idealen Ritters, in den Augen seiner Zeitgenossen vielmehr ein Versager und eine Peinlichkeit auf der ganzen Linie. Vielleicht war das einer der Gründe, warum Edward III. sich das höfische Artus-Ideal zum Ziel machte und versuchte, es nachzuleben. Natürlich blieb in der Realität des 100jährigen Krieges von Edelmut und Ehre nicht viel übrig …

Histo Journal: Im Roman trägt der älteste Sohn Edwards III. den Namen »der schwarze Prinz«. Aber ich las irgendwo, der Name sei erst 200 Jahre später entstanden. Gibt es Hinweise, dass er früher verwendet worden ist?

»Die Beziehung der beiden kennen wir vor allem durch die rosarote Brille des Chronisten Jean Froissart.«

RG: Keine Belege, aber Hinweise. Eine der Theorien über die Herkunft des Namens besagt, er stamme von den französischen Soldaten des 100jährigen Krieges, die Edward aufgrund seiner schwarzen Rüstung oder seines schwarzen Schildes so genannt hätten. {Bei der Rüstung gibt es Ungewissheit, der schwarze Schild ist belegt}. Das war für mich ausreichend, um den Namen im Roman zu verwenden. Er war einfach zu gut, um ihn »liegenzulassen«.

Histo Journal: Verweilen wir zunächst bei Edward. Seine Krönung erfolgte 1327 in London, kurz nachdem sein Vater gedrängt worden war auf seinen Thronanspruch zu verzichten. Kam es häufig vor, dass ein König mehr oder weniger freiwillig auf seine Krone verzichtete?

RG: Nein, Edward II. war der erste seit der angelsächsischen Epoche. Sowohl sein Großvater, Henry III., als auch sein Urgroßvater John {»Ohneland«} wurden im Laufe ihrer Regentschaft vorübergehend vom Adel entmachtet, aber nie war man so weit gegangen, ihnen die Krone wegzunehmen. Darum war vielen Lords 1327 beim Sturz Edward II. ganz schön mulmig zumute. Es gab im kollektiven Gedächtnis der feudalen englischen Gesellschaft keinen Präzedenzfall.

Histo Journal: Wie hat Edward reagiert, als statt seiner zunächst Mutter Isabella und deren Liebhaber, Roger Mortimer, die Regierungsgeschäfte übernahmen? Wer stand dem jungen König zur Seite? Immerhin war er bei seiner Krönung erst vierzehn Jahre alt.

RG: Edward hatte gar keinen Spielraum, um überhaupt zu reagieren. Auch nach damaligen Rechtsbräuchen war er noch zu jung, um zu regieren. Während seiner Minderjährigkeit lag die Macht beim Kronrat, den seine Mutter und ihr Liebhaber sehr klug und vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Das Schlimme für Edward war wohl weniger, dass er die Macht nicht ausüben durfte, sondern dass die politischen Entscheidungen, die zwischen 1327 und 1330 in seinem Namen getroffen wurden, schlecht waren. Eine miserable Fiskalpolitik {die vor allem Mortimer und seiner Clique die Taschen füllte} und ein Friedensvertrag mit Schottland, den die meisten Engländer als schmachvoll empfanden, fielen in diese Zeit. Nicht viele standen dem jungen König in dieser Situation zur Seite, bzw. wer es versuchte – wie seine beiden Verwandten, die Earls of Lancaster und Kent – wurde des Verrats bezichtigt, eingesperrt und/oder hingerichtet. Mortimer hatte beinah so etwas wie ein Terrorregime errichtet, isolierte Edward und ließ ihn bespitzeln. An Edwards Seite war allerdings seine etwa gleichaltrige Frau Philippa. Man kann nur spekulieren, inwieweit sie ihm geholfen und Mut gemacht hat, jedenfalls machen die beiden in späteren Jahren den Eindruck eines sehr vertrauten, regelrecht verschworenen Paars. Ansonsten gab es wohl tatsächlich nur Richard de Bury und William Montague, denen Edward wirklich vertraute: Nur sie kannten das geheime »Passwort«, das Edward in seiner Korrespondenz mit Papst Johannes XXII. verwendete, damit der Heilige Vater sehen konnte, dass die entsprechenden Briefe tatsächlich von Edward kamen.

Histo Journal: Wie urteilten zeitgenössische {englische} Chronisten über den König und seine Ambitionen?

RG: Soweit ich mich entsinne, wurde Edwards Übernahme der Macht allgemein bejubelt – noch ehe irgendwer wusste, wie gut er sich als Herrscher machen würde. Das lag sicher auch daran, dass sein Handeln »die Ordnung« wieder herstellte. Ein regierender König war in den Augen der frommen Chronisten ja der normale, gottgefällige Zustand, während eine Königinmutter {obendrein als »die Wölfin von Frankreich« verschrien} mit ihrem Liebhaber an der Macht an sich schon suspekt war.

Histo Journal: Welchen Stellenwert nahm Königin Philippa in Edwards Leben ein?

RG: Die Beziehung der beiden kennen wir vor allem durch die rosarote Brille des Chronisten Jean Froissart. Er war mit Philippa zusammen aus Hainault {Hennegau} nach England gekommen und vergötterte sie. Darum müssen wir ihn natürlich mit Vorsicht genießen. Aber es spricht vieles dafür, dass das Verhältnis zwischen Edward und Philippa ungewöhnlich vertraut war und er sich auch in politischen Fragen mit ihr beriet. Und gesichert ist: Nach ihrem Tod 1369 begann sein geistiger und körperlicher Verfall. Man gewinnt den Eindruck, als hätte er ohne sie einfach nicht funktionieren können. Was ihn indes nicht daran gehindert hat, sie in ihren über 40 Ehejahren permanent zu betrügen …

Histo Journal: Stürzte Philippa beim Turnier 1331 wirklich von der Tribüne?

RG: Um genau zu sein, war es die Tribüne, die einstürzte. Ja, das ist tatsächlich passiert. Warum Philippa unverletzt blieb, gibt bis heute Anlass zu Spekulationen.

Histo Journal: Edwards prächtiger Hof verschlang Unsummen. In einem Sachbuch zur englischen Geschichte las ich einmal, die Woll- und Tuchproduktion auf der Insel habe sich im 14.Jh. {wahrscheinlich wohl auch noch früher} zu einem Massenartikel entwickelt. Rohwolle und alles was daraus zu gewinnen war, sorgte demnach für eine Expansion im Wirtschaftssektor und für mehr Steuern. Umso erstaunter war ich, dass u.a. italienische, französische, und flämische Kaufleute den internationalen Einfuhr- und Ausfuhrhandel kontrollierten. Nicht aber englische. Immerhin exportierten sie 34.000 Sack Rohwolle nach Flandern, um sie dort von flämischen {oder florentinischen} Webern bearbeiten zu lassen… Trauten sich die Engländer das Navigieren einer Philippa of Hainault, Krönung 1327 {Jean Froissart} Kogge nicht zu? Oder hat es etwas mit den Gilden und ihren Kontrollmechanismen zu tun?

RG: Das ist so verallgemeinert nicht ganz zutreffend. Die Ausfuhr englischer Rohwolle zur Veredelung auf den Kontinent kontrollierten die Engländer selbst und führten sie auch weitgehend selbst durch. Die englische Krone unterhielt an wechselnden Orten in den Niederlanden einen so genannten »Wollstapel«, also eine zentrale Sammelstelle, die alle Exportwolle durchlaufen musste. Richtig ist aber, dass England sich lange auf die Ausfuhr von Rohwolle beschränkte und erst relativ spät die Vorteile der Tuchherstellung im eigenen Land und der anschließenden Ausfuhr englischen Tuchs entdeckte. Die Arbeitsteilung war einfach eine altehrwürdige Tradition: Die Engländer liefern die beste Wolle, die Flamen {oder Brabanter oder Jülicher oder Florentiner usw.} machen daraus das beste Tuch, die Kaufleuten auf beiden Seiten sind glücklich. Dass sich mit der Ausfuhr des fertigen Tuchs viel mehr Geld verdienen ließ, begriffen die Engländer tatsächlich erst durch Königin Philippas »Revolution«.

Histo Journal: Warum reagieren die Männer des Rates auf den Antrag der Königin, flämische Weber nach England zu holen, skeptisch?

RG: Königin Philippa stammte aus den Niederlanden, die in erster Linie von der Tuchherstellung und -veredelung lebten. Ihr Vater, der Graf von Hainault, Holland und Seeland pflegte enge Beziehungen zu den großen Tuchkaufleuten und verdiente selber mit an diesem lukrativen Geschäft. Vermutlich war deswegen naheliegend für Philippa, worauf in England einfach noch niemand gekommen war: Sie holte die berühmten Tuchmacher ihrer Heimat – Weber, Walker, Färber usw. – nach England und siedelte sie dort an, auf dass England nicht nur die {billige} Rohwolle, sondern auch das {wesentlich teurere} fertige Tuch exportieren konnte, was wiederum die Schatullen der Krone mit höheren Ausfuhrzöllen füllte.

Histo Journal: Dein Wissen über die Woll- und Tuchproduktion sowie deren Verarbeitung ist sehr umfassend. Welche Quellen hast du dafür herangezogen?

RG: Die drei wichtigsten Fundgruben waren Swanson, H.: Medieval Artisans, Oxford 1989, Bridbury, A.R.: Medieval English Clothmaking, London 1982 und Lloyd, T.H.: English Wool Trade in the Middle Ages, Cambridge 1977

Histo Journal: Was hat es mit der »Englischen Compagnie« auf sich? Und wessen Idee war sie – finden sich dazu Belege in den englischen Quellen? Warum ist das Projekt letztlich gescheitert?

RG: Um es mal ganz vereinfacht zu formulieren: Die »Englische Compagnie« {eigentlich »English Company«, ich habe das im Roman eingedeutscht} war ein Syndikat von Wollexporteuren. Sie zahlten der Krone eine Summe von 50.000 Pfund pro Jahr und durften dafür die Ausfuhrzölle auf die gesamte englische Exportwolle vereinnahmen, die etwa 60.000 pro Jahr betrugen. Die English Company machte also – theoretisch – einen Gewinn von 10.000 pro Jahr, und der König hatte den Vorteil, dass er auf das Geld nicht warten musste, bis die Zölle vereinnahmt waren. Das eigentlich gut durchdachte Konstrukt scheiterte an der Gier der Mitglieder der Company. Sie schmuggelten ihre Wolle auf den Kontinent, statt sie zu verzollen. Da sie selbst ja jetzt quasi die Zollbehörde waren, gab es niemanden, der ihnen auf die Finger schaute. Darum nahm die Company nie genug ein, um die jährliche Pauschalsumme für die Krone zu decken, und ging schließlich pleite. Die Mitglieder selbst allerdings machten märchenhafte Profite. Ausgedacht hat sich dieses geniale Konstrukt tatsächlich William de la Pole. Dieses und viele andere seiner Schurkenstücke sind nachzulesen in Fryde, E.B.: William de la Pole, London 1988

Die Schlacht von Sluys
Buchmalerei in den Chroniques des Jean Froissart
um 1337 – um 1405

Histo Journal: War William de la Pole wirklich so ein Fiesling? Entspricht es der Wahrheit, dass Philippa den Kaufmann nicht leiden konnte?

RG: Auf jeden Fall war er ein Schlitzohr. Alle im Roman beschriebenen Machenschaften, mit denen er die Krone betrogen oder Konkurrenten ruiniert hat, haben tatsächlich so stattgefunden. Er ist ja nicht umsonst im Knast gelandet, und wäre der König nicht so abhängig von seinen Geldbeschaffungskünsten gewesen, wäre er möglicherweise hingerichtet worden. Aber Philippas Antipathie gegen ihn habe ich erfunden. Soweit ich mich erinnere, gibt es keine Belege dafür.

Histo Journal: Wäre es von mir sehr verkürzt dargestellt, wenn ich sagte, der Hundertjährige Krieg sei vor allem eine aus dynastischen Beweggründen geführte Auseinandersetzung gewesen {Hauptakteure: Plantagenets und Valois plus jeweilige Anverwandte}?

RG: Ja, das wäre verkürzt und unvollständig. Dieser Krieg hatte auch ganz handfeste wirtschaftliche Gründe: Der französische König erhob mit einem Mal Ansprüche auf Aquitanien, das zwar in Frankreich lag, aber durch Erbschaft der englischen Krone gehörte. England war ein kleines, nicht sehr reiches Land. Es konnte auf die Einkünfte aus Aquitanien, die vor allem dem Weinexport geschuldet waren, nicht verzichten. Womit ich aber nicht sagen will, Frankreich habe den Kriegsausbruch zu verantworten, denn Edward wollte diesen Krieg. Es war nach seiner Vorstellung die Aufgabe eines Ritter- Königs, sich mit seinen Feinden auf dem Schlachtfeld zu messen und möglichst viel Ruhm und Ehre zu gewinnen.

Histo Journal: Zur Schlacht von Sluys: Erstens: Wie verlief die Schlacht? Zweitens: Warum war dieser Sieg für England so wichtig?

RG: Es war eine Seeschlacht, die im Hafenbecken von Sluys {das war der Hafen von Brügge} ausgetragen wurde. Die französische Flotte war zahlenmäßig weit überlegen, aber aufgrund der Enge im Hafenbecken und der Schwerfälligkeit der großen französischen Schiffe hatten die Engländer den Vorteil auf ihrer Seite und gewannen. Es war eine Katastrophe für Frankreich. Ich habe vergessen, wie hoch die Verluste waren, aber in Brügge machte nach der Schlacht das Wort die Runde, es seien so viele Franzosen im Hafenbecken versunken, dass die Fische des Meeres Französisch gelernt hätten, wenn sie denn sprechen könnten. Für Edward III. war es der erste vorzeigbare Erfolg seines Krieges, der immerhin schon seit drei Jahren währte, und die Schlacht brachte eine lohnende Beute an feindlichen Schiffen, neuen Rückhalt im englischen Parlament und neues Vertrauen bei den dringend benötigten Geldgebern.

Histo Journal: Noch einmal zurück zum Gefüge der Gilden {speziell der Tuchmachergilde}: Gilden scheinen einen eigenen Kosmos gebildet zu haben. Sie verfügten über einen eigenen Seelsorger, die Mitglieder halfen sich in der Not, standen füreinander ein… Doch nicht jeder Kaufmann wurde gleich in die Reihen aufgenommen. Welche Bedingungen musste ein Anwärter erfüllen? Und welche Ämter konnte er bekleiden, so er Aufnahme fand?

RG: Eigener Kosmos ist richtig. Die Gilden und Zünfte waren in allen Bereichen des Lebens maßgeblich, dort wurden Ehen gestiftet, gemeinsame geschäftliche Entscheidungen getroffen, Politik gemacht, gebetet, und es gab auch eine Art Sozialfonds für notleidende Witwen und Waisen von Mitgliedern. Aber man darf das nicht glorifizieren. Es waren Zweckbündnisse von Konkurrenten. Man hat sich auch gern gegenseitig ein Messer in den Rücken gerammt – meistens nur bildlich gesprochen. Mitglied werden konnte nur ein kleiner, elitärer Kreis, nämlich so genannte Londoner »Freie«, also Inhaber der Londoner Bürgerrechte. Die genaue Zahl weiß ich nicht mehr, aber es war nur ein geringer Prozentsatz der Stadtbevölkerung. Und aus den Reihen der Gildemitglieder setzte sich der Stadtrat zusammen, der wiederum die Sheriffs und den Bürgermeister wählte.

Histo Journal: Im Roman warnt Martin Greene Jonah Durham, dass die Seele eines Kaufmannes rein bleiben müsse, will er nicht dem Teufel anheimfallen: »Vater Gilbert hat einmal gesagt, Gott habe das Fegefeuer eigens für die Kaufleute ersonnen, damit sie nicht alle in die Hölle kommen und dort einen schwunghaften Handel mit Flint und Schwefel eröffnen. Und er hatte Recht. Unseren Gewinn zu mehren ist unser aller Streben. Es ist nicht immer einfach, dabei anständig zu bleiben, das werdet Ihr sehr bald feststellen. Almosen und Barmherzigkeit sind keine lohnenden Investitionen. Darum tun manche von uns sich schwerer damit, als sie sollten.«{4} Gab es so etwas wie einen Ehrenkodex für Gildemitglieder?

RG: Martin Greene im Roman und die meisten Kaufleute der Realität waren Realisten und bildeten sich nicht ein, sich eine »reine Seele« bewahren zu können: Ja, es gab einen Ehrenkodex, der einen anständigen Umgang miteinander vorschrieb, aber wann immer man damit durchkam, wurde dagegen verstoßen, wenn man dadurch einen geschäftlichen Vorteil herausschinden konnte. In dieser christlich geprägten Gesellschaft sahen die Kaufleute sich aber mit dem Problem konfrontiert, dass ihr Profitstreben eigentlich nicht mit christlichen Grundwerten vereinbar war. Dieses Problem nahm die Philosophie des Mittelalters sehr ernst, und eine Theorie über die Ursprünge des Glaubens an das Fegefeuer besagt tatsächlich, es sei »erfunden« worden, als das Bürgertum aufkam, dessen Bedürfnissen die schwarz-weiß Trennung zwischen Himmel und Hölle nicht gerecht wurde. Die Kaufleute mussten quasi von Berufs wegen sündigen, aber deswegen durfte man ja nicht diese ganze neue Gesellschaftklasse in die Hölle verdammen. Das Jenseits brauchte also eine dritte Komponenten, um dieser Problematik Rechnung zu tragen. {Vgl. Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984}

Histo Journal: Entspricht es der Wahrheit, dass Frauen in der damaligen Gesellschaft über nur wenig Rechte verfügten, im Prinzip also keine autarken Wesen waren? Dennoch gibt es sehr vermögende und angesehene Frauen, die über ihren Reichtum frei verfügen konnten, ihn z.B. vererben konnten. Ist das nicht ein Widerspruch?

RG: Eine Frau war nicht geschäftsfähig, das heißt, sie konnte streng genommen kein eigenes Geld besitzen oder Handel treiben {obwohl es in Ausnahmefällen vorkam}. Bis zur Heirat unterstand sie der Vormundschaft des Vaters oder eines anderen männlichen Verwandten, nach der Heirat der ihres Ehemannes. Weitgehende Unabhängigkeit genossen hingegen Witwen. Sie hatten einen eigenen Erbanspruch, und waren die Kinder noch minderjährig, konnten sie auch deren Erbe verwalten. Sie konnten ungehindert Handel treiben. War eine Witwe in einer Gilde als lebensklug und geschäftstüchtig angesehen, konnte sie sogar in die Mitgliedschaft ihres verstorbenen Mannes eintreten. Ich hab mich schon so manches Mal gefragt, wie viele Frauen bei der Herstellung ihres Witwenstands nachgeholfen haben, war es doch der einzige Weg zur Eigenständigkeit.

Histo Journal: Auch gab es etliche Mädchen, die ungewollt schwanger wurden und so an den Rand der Gesellschaft getrieben wurden. War ein Freudenhaus ihre einzige Zufluchtsstätte, bzw. ihr zukünftiges Schicksal? Im Nachwort des Romans heißt es: »Die Dame der feinen Londoner Gesellschaft und ihr teures Freudenhaus hat es wirklich gegeben. Sie wurde aktenkundig, weil eine Magd sie vor dem Lord Mayor verklagte, sie zur Prostitution gezwungen zu haben.«{5} Wer war diese feine Dame?

RG: In der städtischen Gesellschaft war für viele unverheiratete Mütter die Prostitution die einzige Überlebenschance, wenn ihre Familie sie nicht unterstützte. Weil sie als »unkeusch« galten {auch wenn sie Vergewaltigungsopfer waren, das spielte keine Rolle}, war es sehr schwierig, eine Anstellung als Dienstmagd o.ä. zu finden. Den Namen der feinen Dame habe ich vergessen, aber der Fall ist nachzulesen in Edith Rickert: Chaucer’s World, New York 1948

Histo Journal: Kam es häufig vor, dass sich in Not {sowie an die feine Dame} geratene Frauen dem Lord Mayor anvertrauten? In diesem Zusammenhang: Was und wer ist der Lord Mayor?

RG: Der Lord Mayor war der Bürgermeister, der zusammen mit dem Stadtrat auch das städtische Gericht bildete. Und nein, es kam höchst selten vor, dass eine unverheiratete Mutter oder zur Prostitution gezwungene Frau sich traute, vor diesem Gericht zu klagen, weil dieses rein männliche Gericht ihr von vornherein mit Argwohn und Geringschätzung begegnete.

Histo Journal: Der gerade zuvor zitierte Absatz aus dem Nachwort geht noch weiter: »Ein Priester hatte das in Not geratene junge Mädchen dorthin vermittelt.«{6} Drastisch ausgedrückt: Hier agiert der Priester als Frauenhändler. Kam das häufig vor? Liefern Quellen dazu Hinweise? An diesem konkreten Beispiel: Womit rechtfertigte der Priester sein Handeln?

RG: Auch hier verweise ich auf Rickert als Quelle. Wie häufig es dieses konkrete Fehlverhalten gab, entzieht sich meiner Kenntnis, aber wir dürfen nicht vergessen: Das Priesteramt war im Mittelalter oft eine Karriere, keine Berufung. Da gab es eine Menge schwarzer Schafe. In der Literatur findet man immer wieder Gerichtsakten, aber auch Burlesken über lüsterne oder diebische oder anderweitig sündige Geistliche.

Badehaus.
Abbildung aus dem
Factorum Dictorumque Memorabilium
des Valerius Maximus.
15. Jahrhundert.

Histo Journal: Ist ein Badehaus ein Synonym für ein Freudenhaus?

RG: Vielleicht waren nicht alle öffentlichen Badehäuser auch Freudenhäuser, aber es war eine beliebte Front für dieses anstößige, eigentlich verbotene und doch so florierende Geschäft. Das ist ein gutes Beispiel für die Doppelmoral beim Thema Prostitution: Natürlich wussten die Behörden genau, was in den Badehäusern vorging, aber weil sie eben einen »respektablen« Zweck vortäuschten, wurden sie geduldet.

Histo Journal: Ein weiteres großes Thema ist das der Pest. Im Roman heißt es: »›Ratten haben Flöhe, nicht wahr? Und die Flöhe gehen gern von Ratten auf Menschen über, vor allem die Armen, die sich nicht sauber halten […].‹ Jonah sah ihn ungläubig an. ›Was für eine abstruse Idee.‹«{7} Zu welchen Erkenntnissen gelangten die Ärzte jener Zeit? {Anm: Ich habe von dem Arzt Gentile da Folligno gelesen. Er starb 1348 selbst an den Folgen der Pest. Er muss diverse Pesttheorien zusammengetragen haben. Kennst du seine Theorie {Pest als Folge ungünstiger Konstellation von Saturn, Mars und Jupiter usw}?}

RG: Die Wissenschaftler, die sich mit der Pest befassten, vornehmlich Ärzte und Astronomen, entwickelten diverse Theorien, aber leider fand keiner die richtige Lösung. Ich habe Vater Samuel in meinem Roman die Theorie in den Mund gelegt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Pest und der Nähe von Ratten und Flöhen geben könnte, um meinen Leserinnen und Lesern zu erklären, wie die Krankheit übertragen wurde. In Wirklichkeit gibt es aber keinen Beleg dafür, dass die Gelehrten die wahre Ursache erkannt oder auch nur vermutet hätten, dass nämlich Ratten und Flöhen dem Erreger als Wirtstiere dienten. Als das apokalyptische Ausmaß der Epidemie sich abzeichnete, versammelte der Papst eine Gruppe von Gelehrten in Avignon, um nach den Ursachen zu forschen. Sie einigten sich darauf, dass eine unglückliche Sternenkonstellation die Seuche verursacht haben müsse. Unterdessen behandelte der Leibarzt des Papstes, Guy de Chauliac, die Kranken der Stadt und kam der Wahrheit beinah auf die Spur: Er hielt fest, dass es die Armen eher zu treffen schien als die Reichen {was an den schlechteren hygienischen Verhältnissen lag}, und er erkannte, dass er es mit zwei verschiedenen Krankheiten zu tun hatte, der Beulen- und der Lungenpest. Aber eine Lösung fand auch er nicht.

Histo Journal: Was glaubte die Bevölkerung? Welche Position vertrat die Kirche? Wie viele Londoner/Engländer sind der Pest zum Opfer gefallen? Wer hat die Leichen beseitigt? Gab es Strategien dieser Seuche zu entkommen? Die Kölner machten die in der Stadt lebende jüdische Bevölkerung für den Ausbruch der Seuche verantwortlich {Pogrome}.

RG: Unter dem Eindruck der Katastrophe entwickelten sich alle möglichen abergläubischen Theorien. Viele Menschen – egal ob Laien oder Geistliche – glaubten, die Pest sei eine Strafe Gottes für ihre Sünden. Antijüdische Pogrome wie auf dem Kontinent gab es in England nicht. Nicht etwa weil die Engländer aufgeklärter waren als der Rest der Welt, sondern weil es in England keine Juden mehr gab. König Edward I. hatte sie 1290 per Edikt aus dem Land gejagt. Aber Beispiele für die Verrohung und Entmenschlichung der Gesellschaft, die die Verzweiflung über diese unbegreifliche Epidemie hervorrief, gibt es auch in England. Opferzahlen sind schwer zu ermitteln. Im dicht besiedelten London wütete die Krankheit schlimmer als auf dem Land {obwohl Archäologen auch Überreste von Dörfern ausgegraben haben, die während der Pest komplett entvölkert wurden}. Die Opferzahlen werden auf ein bis zwei Drittel der Gesamtbevölkerung geschätzt. Das stellte die Überlebenden auch vor riesige logistische Probleme, um es mal pietätlos auszudrücken. In großer Hast wurden neue Friedhöfe eingerichtet, aber die Totengräber kamen mit der Arbeit nicht nach, und es kam immer wieder vor, dass ganze Wagenladungen voller Leichen in der Themse landeten. Strafrechtliche Verfolgung brauchten die Übeltäter kaum zu fürchten, denn die Stadtväter und Ordnungshüter wurden genauso dahingerafft wie alle andern, sodass zu der allgemeinen Not durch die vielen Krankheits- und Todesfälle noch Rechtlosigkeit und ein sprunghafter Anstieg an Verbrechen hinzukamen.

»›Beelzebubs Gastmahl‹ habe ich erfunden, aber es ist eine typische ›Moralität‹, ›Glaube‹ und ›Edelmut‹ oder auch ›Wollust‹ treten als handelnde Figuren auf und kämpfen meist um die Seele eines Menschen. Wir kennen das heute noch aus dem ›Jedermann‹.«

Histo Journal: Sprachen die Menschen der Zeit schon vom »Schwarzen Tod«?

RG:: Es sind einige Klagelieder überliefert, in denen die Farbe Schwarz zur Beschreibung der Pestbeulen oder der Allgegenwart des Todes verwendet wurde, aber Belege für den Begriff »der schwarze Tod« finden sich erst später.

Histo Journal: In London fanden Schauspielaufführungen statt. Waren diese stets religiös motiviert? Bzw. von der Kirche/von einem Priester organisiert? Und existiert das Stück »Beezlebubs Gastmahl«{8} in Wirklichkeit?

RG: Es gab eine offizielle und eine freie Schauspielszene. Die offizielle wurde von den Gilden und Zünften bestritten, die an bestimmten religiösen Seuchenkranke werden gesegnet {Buchmalerei, 1360-1375}Festtagen ihre Theaterproduktionen, so genannte Mysterienspiele, zur Aufführung brachten. Diese behandelten religiöse bzw. biblische Themen, und der »Regisseur« war inder Regel einer der Seelsorger der Gilde oder Zunft, doch hatten diese Stücke auch komödienhafte Elemente und setzten durchaus auf Spannung. Die freie Szene wurde hauptsächlich von Gauklertruppen bestritten, die Schwänke oft recht zotigen Inhalts ebenso zur Aufführung brachten wie Moralitäten, also allegorische Dramen. »Beelzebubs Gastmahl« habe ich erfunden, aber es ist eine typische Moralität: »Glaube« und »Edelmut« oder auch »Wollust« treten als handelnde Figuren auf und kämpfen meist um die Seele eines Menschen. Wir kennen das heute noch aus dem »Jedermann«.

Histo Journal: Ein Gildemitglied hat ein prächtiges Haus mit Butzenscheiben, gebohnertem Holzboden und mit einem Garten. Ist das Ausdruck eines neuen Wohngeschmacks? Ahmen die Städter das Lebensgefühl der Adligen nach? – Und: kollidiert das nicht mit den Vorstellungen der Gilde vom rechten Maß?

RG: Es ist ein bisschen mehr als eine Nachahmung. Der neue Reichtum der Kaufleute und dessen Zurschaustellung war eher so etwas wie eine Kampfansage an den Adel, nach dem Motto: »Wir sind die Zukunft, und ihr seid ein Auslaufmodell.« Dieses Selbstbewusstsein war nicht unberechtigt. Durch die Folgen der Pest wurde die wirtschaftliche Lage des Adels, der sein Vermögen aus Landbesitz zog, immer schwieriger, während die Kaufleute prosperierten. Die Krone stützte sich zunehmend auf diese wohlhabende Klasse, allen voran die Wollhändler, um ihren Finanzbedarf zu decken, was für das Bürgertum eine soziale Aufwertung mit sich brachte. Sicher gab es konservative Elemente, die über diese Zurschaustellung von Reichtum die Nase rümpften. Aber viele Kaufherren vertraten eben den Standpunkt: »Wir sind jetzt wer, und das zeigen wir auch!« Es war ein Symptom einer gesellschaftlichen Veränderung.

Histo Journal: Vielen Dank!


»Der König der purpurnen Stadt«
Rebecca Gablé

London im Jahr 1330: Der achtzehnjährige Jonah hat kein leichtes Leben als Lehrjunge im Haushalt seines Cousins. Einzig seine Großmutter schenkt ihrem verwaisten Enkel ein wenig Zuneigung. Doch eine Begegnung mit König Edward und Königin Philippa lenkt Jonahs Schicksal in neue Bahnen. Er findet Aufnahme in der elitären Londoner Tuchhändlergilde, und gemeinsam mit Königin Philippa revolutioniert er die englische Tuchproduktion. Aber je größer sein Erfolg, desto heimtückischer werden die Intrigen seiner Neider …

Hörspiel

Audible und Oliver Rohrbecks Lauscherlounge machen es möglich: Es gibt eine neue Vertonung des historischen Romans »Der König der purpurnen Stadt« von Rebecca Gablé. Herausgekommen ist ein wundervoll inszeniertes Hörspiel, das aus drei Teilen besteht und exklusiv bei Audible im Download erhältlich ist: Rezension zu Jonah {Teil 1 bis 3} im Histo Journal.

Die Autorin

Rebecca Gablé wurde am 25. September 1964 in einer Kleinstadt am Niederrhein geboren. Nach einer Lehre als Bankkauffrau und anschließender vierjähriger Tätigkeit in diesem Beruf, studierte sie ab 1990 Literatur in Düsseldorf, dessen Schwerpunkt sich mehr und mehr zur Mediävistik – der Lehre vom Mittelalter – verlagerte. 1995 erschien ihr erster Kriminalroman »Jagdfieber« im Lübbe Verlag. Dieser wurde 1996 für den Friedrich-Glauser-Krimipreis nominiert. Seit 1996 arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Alle ihre historischen Romane sind Bestseller geworden. 2006 erhielt sie für ihren Roman »Die Hüter der Rose« den Sir Walter Scott-Preis. Rebecca Gablé lebt mit ihrem Mann am Niederrhein und auf Mallorca.

Website der Autorin

Rebecca Gablé im Histo Journal
Roman Welten: Der König der purpurnen Stadt {Interview}
Interview: Rebecca Gablé über Hörbücher
Interview: Rebecca Gablé über »Der Palast der Meere«
Buchbesprechung: »Der Palast der Meere«
Buchbesprechung: »Die fremde Königin«
Hörbuch Rezension: »Der Palast der Meere«
Hörbuch Rezension: Das Haupt der Welt
Hörbuch Rezension: Die fremde Königin
Hörspiel Rezension: Jonah {1 bis 3} oder Der König der purpurnen Stadt

Bildmaterial aus Wikipedia {frei, sonst angegeben}
Fußnoten
{1}De Bury, Richard; The Philobiblon. URL http://historymedren.about.com/library/text/bltxtphilobibmain.htm Stand: 22.08.2012, Chapter I, Absatz 4
{2}Gablé, Rebecca; Der König der purpurnen Stadt. 2-4 Aufl., Bergisch- Gladbach, Lübbe Verlag, 2004, S.9 {im Folgenden TB}
{3}TB, S.636 {4}TB, S.143 {5}TB, S.959 {6}TB, S.959 {7}TB, S.813 {8}TB, S.654