Annis Bell im Interview

»Das viktorianische Zeitalter ist voller Zündstoff.«

Just erschien mit »Die Tote von Rosewood Hall« Annis Bells erster historischer Kriminalroman, in dem sie ihre Leserinnen und Leser ins viktorianische England mit all seinen moralischen Abgründen, gesellschaftlichen Zwängen und herrschaftlichen Häusern entführt. In diesem Interview erzählt sie von vom Schicksal benachteiligten Waisenkindern, dem historischen Vorbild für Lady Jane und warum Queen Victoria Marihuana nahm.

von Alessa Schmelzer

Histo Journal: »Die Tote von Rosewood Hall« ist der erste Fall für Lady Jane. In deinem historischen Krimi geht es um tote Waisenkinder, skrupellose Machenschaften und eine eigenwillige Lady, die in diesem Netz aus fein gesponnenen Lügen auf eigene Faust ermittelt … Worauf müssen sich deine Leserinnen und Leser bei der Lektüre dieses Krimis gefasst machen?

Annis Bell {AB}: Auf eine ungewöhnliche junge Frau, die unter den gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit leidet und ihre neugierige Nase einfach nicht aus gefährlichen Situationen heraushalten kann. Außerdem hat Lady Jane ein Herz für die weniger vom Schicksal begünstigten und findet in Captain Wescott einen Partner, der ebenso unkonventionell ist wie sie.

Histo Journal: Viktorianische Waisenkinder hatten nicht viel zu lachen. Die Lage dieser Kinder mag so manchen Leser schockieren. Ging es in diesen Häusern damals wirklich so hart zu?

AB: Leider ging es den Armen zu jener Zeit tatsächlich sehr schlecht. Das war natürlich nicht nur im viktorianischen England so, aber gerade die Waisenkinder litten besonders. Ich habe viele Quellensammlungen zu der Thematik gefunden, die sehr detailreich schildern, wie es damals zuging. Wie gut oder schlecht es um ein Waisenhaus stand hing immer vom Master ab. Nach 1834 trat der ›Poor Law Amendment Act‹ in Kraft. Durch verbesserte bürokratische Strukturen wollte man der unerträglichen Situation in den Workhouses und den Waisenhäusern Abhilfe schaffen. In einem Fall las ich von Missbrauch und Kinderprostitution …

Wilton House
Aufnahme um 1865

Histo Journal: Also beschreibst du in deinem Krimi eine wahre Begebenheit?

AB: Ja, ich bin auf einen Artikel über Waisen im viktorianischen England gestoßen, in dem ein spezieller Fall über eine Institution in Essex geschildert wird. Eine Krankenschwester war dort für den Tod eines Mädchens verantwortlich, dass sie die Treppen hinuntergestoßen hatte. Daraus formte sich nach und nach die Idee zu Lady Janes erstem Fall.

Histo Journal: Eine Rolle spielen auch sogenannte ›Clubs‹.

AB: Oh ja, die Clubs! Die gibt es auch heute noch und es gilt auch heute noch oft genug ›no dogs, no women‹ – in dieser Reihenfolge. In London gilt St. James’s noch immer als Clubgegend.

Histo Journal: Nicht ohne Ironie lässt du Männer {darunter auch Captain Wescott, mit dem Lady Jane eine Verbindung eingeht} ihre Zeit im ›Club‹ verbringen …

AB: Gerade im 19. Jahrhundert blühten die sogenannten ›Gentlemen’s Clubs‹. Sie hatten unterschiedliche Ausrichtungen, aber man wollte unter sich sein. Im ›Boodle’s‹ trafen sich aristokratische Tories, im ›Brooks’s‹ die Whigs, im ›Carlton Club‹ war man konservativ, der ›East India Club‹ war von Mitgliedern eben der East India Company gegründet worden. Dann gab es den ›Eccentric Club‹ für Exzentriker und Philanthropen oder den ›Garrick Club‹ für Künstler und Kunstfreunde etc. Die Liste ist lang, denn es gab an die 400 Clubs!

Athenaeum Club
Mitglieder waren z.B. Sir Walter Scott, Rudyard Kipling oder Winston Churchill

Histo Journal: Faszinierend. Wie verbrachten die Männer dort ihre Zeit? War es nur ein Refugium für Zigarrenrauchende und Whiskytrinkende Ehegatten und solche die es werden mussten? Ich las einmal von der Doppelmoral, die natürlich kein modernes Phänomen ist, in viktorianischer Zeit.

AB: In erster Linie ging es um Informationsaustausch, Klatsch, das Anbahnen von Geschäften und natürlich um das Vergnügen. Was tatsächlich hinter verschlossenen Türen geschah unterlag der Diskretion der Mitglieder …

Histo Journal: Lady Jane verhält sich nicht unbedingt ›ladylike‹. Sie ist mutig, intelligent und ist nicht bereit die gesellschaftlichen Zwänge einfach hinzunehmen. Mir kamen Frauen wie Elizabeth Garrett Anderson, Emily Davies oder Florence Nightingale in den Sinn. Gibt eine historische Frauengestalt, die als Vorbild für Lady Jane fungierte?

AB: Die gibt es tatsächlich. Ich hatte vor einiger Zeit eine Biographie über Jane Digby {1807 – 1881} gelesen. Das außergewöhnliche Leben dieser starken und für ihre Zeit untypischen Frau hat mich fasziniert. Jane Digby heiratete in erster Ehe Baron Ellenborough, später Vizekönig von Indien. Schon während dieser Ehe hatte sie Affären mit illustren Männern, u.a. mit dem österreichischen Diplomaten Schwarzenberg. Unerhörter Weise ließ Jane Digby, nun Lady Ellenborough, sich 1830 scheiden. Sie war die Geliebte von Ludwig I. von Bayern, heiratete später den griechischen Grafen Theotokis. Doch auch Theotokis konnte die abenteuerlustige Lady nicht halten. Ihren Ruf als skandalöse Abenteurerin begründete schließlich ihre Liebe zu einem wesentlich jüngeren Scheich in Syrien. 1854 heiratete sie el Mezrab und hieß fortan Jane Elizabeth Digby el Mezrab. Arabisch wurde ihre neunte Sprache. Zu ihren Bekannten gehörten der Entdecker Richard Burton und Ab del-Kader. Bis zu ihrem Tod 1881 war sie die verehrte Gemahlin des Scheichs, der bis zuletzt an ihrer Seite war. Gemäß ihren Wünschen ließ er sie auf dem protestantischen Friedhof von Damaskus bestatten.
Also, im Vergleich zu dieser Jane ist meine Lady richtig zahm ;-)

Histo Journal: Beim viktorianischen England denken viele sicherlich an Queen Victoria, die dieser Epoche ihren Namen verlieh. Was fasziniert dich an dieser Epoche?

AB: Wo soll ich anfangen? Dieses Zeitalter ist voller Zündstoff – in vielerlei Hinsicht. Die charismatische Queen Victoria steht an der Spitze eines Landes, das durch die industrielle Revolution zu wirtschaftlichem Wohlstand gelangt. England ist noch immer eine mächtige Kolonialmacht, führt Kriege mit den großen europäischen Mächten. Die Aristokratie regiert, noch, doch das Volk gewinnt durch die neuen Industrien an Bedeutung und die gesellschaftlichen Regeln beginnen zu bröckeln.
Durch Serien wie Downton Abbey ist vielen vielleicht der gravierende Klassenunterschied näher gebracht worden. Auch diesen Aspekt finde ich sehr spannend, birgt er doch Konfliktpotential für das Zusammenleben meiner Protagonisten.
Neue Gesetze sollten Polizei und Strafrecht verbessern, die Hungersnöte eingrenzen, doch die Armen litten nach wie vor. Orientkrise, Krimkrieg – sehr spannend und mit den neuen Geheimdiensten verbunden. Ein gedienter Captain, der im Dienste ihrer Majestät unterwegs ist kam mir da sofort als Figur in den Sinn.
Die Garderobe ist ein Kapitel für sich, Kunst und Literatur spielten für die Unterhaltung der Oberschicht eine wichtige Rolle. Und es gab mehr und mehr Frauen, die sich um Bildungseinrichtungen kümmerten und das erste Frauencollege {Anm. der Red.: 1869 gründeten Emily Davies, Lady Stanley of Alderley und Barbara Bodichon mit dem ›Girton College‹ das erste Frauencollege in England} gründeten.

Histo Journal: Auf deiner Website las ich mit Erstaunen, dass der Leibarzt von Queen Victoria Marihuana gegen Menstruationsbeschwerden verschrieb, ›Godfrey’s Cordial‹ {ein Sirup aus Laudanum und Morphium} als Wundermittel galt und die Beine der Pianos aus Gründen das Anstands verhüllt wurden – das ist wirklich kurios. Für uns ist das heute schwer vorstellbar. Wie rechtfertigten die Mediziner und die Hüter von Moral und Ordnung ihre Verschreibungen und sonderbaren Taten?

Kokainhaltige Tropfen gegen Zahnschmerzen

AB: Über mögliche Nebenwirkungen wusste man meist nicht sehr viel und war einfach froh, endlich ein Betäubungsmittel gefunden zu haben. ›Godfrey’s Cordial‹ wurde sehr gern von Kinderfrauen benutzt, um schreiende Kinder ruhig zu stellen. Dass man sich damit Süchtige heranzog, war dabei nebensächlich. Die Doppelmoral ist bezeichnend für das 19. Jahrhundert. Auf der einen Seite gab es die zur Schau getragene Prüderie, auf der anderen einen neuen Umgang mit Sexualität, den neuen Skandaljournalismus und Romane, in denen um Liebe gegen Konventionen gekämpft wird.

Histo Journal: Recherche für einen historischen Krimi oder Roman ist unabdingbar. Du lebst abwechselnd in England und Deutschland. Wie viel Zeit hast mit ›Reisen zu den Quellen‹ verbracht?

AB: Einige Wochen habe ich schon mit den Recherchen zu Lady Jane verbracht. Viele Schauplätze sind mir von früheren Reisen vertraut, die Gegend in Cornwall noch nicht. Aber ich fand beim Herumfahren verschiedene historische Vorbilder für ›Mulberry Park‹. Unter anderem war ich sehr angetan von ›Antony House‹, einem beeindruckenden Anwesen westlich von Plymouth. Das malerisch über den Klippen gelegene Anwesen mit dem gleichnamigen Dorf hat einen magischen Zauber.

Histo Journal: Bei dem Anwesen ›Rosewood Hall‹ fühlte ich mich immer an ›Downton Abbey‹ {englische TV Serie} erinnert. Oder hätte ich an ›Wilton House‹ denken müssen? Lord Pembroke ist Lady Janes Onkel. Die realen Earls of Pembroke leben in ›Wilton House‹ …

AB: ›Downton Abbey‹, ja, eine hervorragende Serie! ›Wilton House‹ käme dem durchaus nahe, aber ich habe es mir nicht ganz so mächtig vorgestellt.

Histo Journal: Woher rührt eigentlich die Tradition Häusern einen Namen zu geben? ›Rosewood Hall‹, ›Mulberry Park‹ usw.

AB: Häusern einen Namen zu geben hat eine lange Tradition, die mit den herrschaftlichen Anwesen des Adels beginnt. Ein Familiensitz konnte entweder nach der Familie oder einer Besonderheit des Hauses benannt werden. Beliebt waren und sind Pflanzen- und Tiernamen und landschaftliche Gegebenheiten.

»Where sunless rivers weep
Their waves into the deep,
She sleeps a charmed sleep:
Awake her not…
Sleep that no pain shall wake;
Night that no morn shall break
Till joy shall overtake
Her perfect peace.«

Christina Rossetti

Histo Journal: Dieses Gedicht {s. Box} von Christina Rossetti hast du der Geschichte vorangestellt. Auf deiner Website erfahren wir etwas über ihr Leben und Schaffen als Dichterin. Warum hast du ausgerechnet dieses Gedicht ausgewählt?

AB: Ich mag ihre Gedichte sehr. Der melancholische Grundton passt zu ihren bevorzugten Themen: leidvolles Leben, unglückliche Liebe, Tod, vom Verlust eines Kindes. »Dreamland« habe ich gewählt, weil es vom Tod als Beginn eines neuen friedvollen Daseins erzählt, von der Erlösung eines leidvollen Lebens auf Erden. Es endet mit der Zeile »till joy shall overtake her perfect peace«. Und dabei dachte ich an die sterbende Polly, die in Janes Armen einschlafen darf, nachdem sie durch die Hölle gegangen ist.

Histo Journal: Es gibt viele Literaten aus jener Zeit. Lord Byron, Elizabeth Barrett Browning, die Brontë Schwestern oder auch Oscar Wilde sind nur einige von ihnen. Welche begeistern dich?

AB: Alle! :-) Vielleicht besonders die Brontë Schwestern, denn »Wuthering Heights« zählt zu meinen Lieblingsgeschichten – ein ergreifendes Drama beleuchtet die Abgründe menschlicher Leidenschaften in landschaftlich ebenso mitreißender Kulisse. Oscar Wilde kann man zu jeder Zeit lesen und entdeckt immer wieder eine ironische Bemerkung, die so treffend ist, dass man nur nicken und schmunzeln kann. Der Kreis um Byron mit Literaten wie Mary Shelley und Percy Shelley, John Polidori schuf viele wundervolle Werke. Und auch die Lebensgeschichten der Dichter sind oft so abenteuerlich und dramatisch wie ihre Werke selbst.

Histo Journal: Der erste Fall von Lady Jane ist auch als ungekürztes Hörbuch, hervorragend gelesen von Sabina Godec, erschienen. Hörst du gerne Hörbücher?

AB: Ich mag Hörbücher sehr gern, vor allem, wenn ich unterwegs bin. Im Auto und im Zug höre ich oft Hörbücher, gern englische Klassiker und historische Romane, zuletzt von Peter Prange »Ich, Maximilian, Kaiser der Welt«. Bei Hörbüchern achte ich auf Sprecherstimmen, die ich mag und war sehr angetan von Sabina Godecs Stimme. Sie ist nicht affektiert, hat eine warme rauchige Stimme und liest Lady Janes Geschichte sehr einfühlsam. Von daher kann ich die Hörbuchversion von »Die Tote von Rosewood Hall« nur empfehlen!

Histo Journal: Es ist Lady Janes erster Fall. Was ist mit dem zweiten?

AB: Es soll auf jeden Fall einen weiteren Band mit Lady Jane geben und der Arbeitstitel lautet »Lady Jane und die schwarze Orchidee«.

Histo Journal: Schöner Arbeitstitel. Darfst du schon etwas über diesen Fall ausplaudern?

AB: Zumindest so viel: Lady Jane wird von einer Freundin um Hilfe gebeten, die um ihr Leben fürchtet. In einem düsteren Haus in Northumberland steht vieles nicht zum Besten und der seltsame Hausherr ist ein fanatischer Orchideensammler. Captain Wescott ist selbst in einen Fall verwickelt und hat alle Hände voll zu tun, um seiner Frau auch dieses Mal beizustehen …

Histo Journal: Klingt vielversprechend! Vielen Dank für das Interview, Annis!


»Die Tote von Rosewood Hall«

Wiltshire 1860: Lord Henry Pembroke hat sich alle Mühe mit der Ausrichtung eines Balls für seine geliebte Nichte Lady Jane in Rosewood Hall gegeben. Auf der Gästeliste stehen die begehrtesten Junggesellen der Londoner Gesellschaft, denn der kranke Lord möchte die Zukunft seiner Nichte, die ihm mehr eine Tochter ist, gesichert wissen. Doch der Abend nimmt einen gänzlich anderen Verlauf als geplant …
Ein verletztes Mädchen stolpert in der winterlichen Ballnacht durch den Park von Rosewood Hall und wird von Lady Jane entdeckt. Jane, eine unkonventionelle und allzu selbstbewusste, junge Frau, bringt die Namenlose im Wintergarten unter. Mit ihrem letzten Atemzug bittet die Sterbende Jane darum, ihre Freundin, Mary, zu finden und vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren. Das Schicksal der gequälten Kreatur geht Jane nahe und sie verspricht, zu helfen. Unerwartete Unterstützung findet Jane durch Captain Wescott, einen verschwiegenen, eher düster wirkenden aber auch attraktiven Mann.