Tanz des Vergessens

Das München der ›Goldenen Zwanziger‹

Buchbesprechung: Heidi Rehn »Tanz des Vergessens«

Gelesen & Notiert von Alessa Schmelzer


Heidi Rehn
Tanz des Vergessens

Inhalt:
Frühling 1919: Die junge Lou will nach dem tragischen Tod ihres Verlobten in den Wirren der Münchner Räterepublik nur noch eines: vergessen! Um ihren Schmerz zu betäuben, stürzt sie sich in das Bohème-Leben der frühen Zwanzigerjahre. Doch wie ein schwarzer Schatten hängt die Vorstellung über ihr, allen Menschen, die ihr nahestehen, Unglück zu bringen. Als sich dieser Glaube ein weiteres Mal zu bewahrheiten scheint, bleibt ihr nur noch ein letzter Ausweg …
Leseprobe auf der Website des Verlags.

Die Wirren in München

Erst seit wenigen Monaten ist der Erste Weltkrieg vorbei. Aus dem Geschichtsunterricht wissen wir jedoch, dass es auch weiterhin in Deutschland kräftig brodelt. Denn noch bevor Deutsche und Alliierte in Compiègne ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen, meutern in Kiel die Matrosen. Es ist diese Novemberrevolution, die sich wie ein Lauffeuer bis in den Süden Deutschlands ausbreitet, und die schließlich auch Bayern erreicht. Schon ruft Kurt Eisner am 4. November den Freistaat Bayern aus. Eine Räterepublik formiert sich, an dessen Spitze Eisner steht. Doch nicht alle sind einverstanden. Eisner wird ermordet und München erlebt in rascher Folge zwei aufeinanderfolgende Räterepubliken. Während der ersten noch Literaten, Pazifisten und Anarchisten angehören, setzt sich die zweite aus Kommunisten zusammen. Jetzt sieht sich die bayrische und Berliner SPD zum Handeln genötigt. Aus Angst vor den Kommunisten rufen sie die Reichswehr- und rechtsradikale Freikorps zu Hilfe. Im Mai 1919 richten diese Truppen in München ein wahres Massaker an. Ein Kampf, bei dem tausend Menschen ihr Leben verlieren …

Das München der ›Goldenen Zwanziger‹

Es sind diese ›Wirren‹, in denen Lou ihren Verlobten Curd verliert. Ihren ›Fels in der Brandung‹, den Mann, der ihr Liebe, Halt und Zuversicht für die Zukunft versprach. Gemeinsam mit seinen Freunden Max und Judith war es ihm gelungen wieder Licht und Farbe in ihr von Schicksalsschlägen durchzogenes Leben zu bringen. Er, der Bühnenbildner, glaubte an ihren Erfolg als Täschnerin mit eigener Kollektion. Jetzt ist Curd tot. Weil sie glaubt, es sei ihre Schuld, will sie nur noch eines: vergessen was war. Der Freundeskreis von einst löst sich für Lou langsam auf. Der charmante und gutaussehene Max, dessen Blicke in ihr mehr als nur freundschaftliche Gefühle auslösen, geht seiner Wege. Als Dramaturg wittert er seine Chance im expandierenden Filmgeschäft. Die selbstbewusste Judith, die Curd versprochen hatte sich um die jüngere Lou zu kümmern, ist als Journalistin beruflich erfolgreich und versucht Lou als Freundin zur Seite zu stehen. Doch Lou will sich nicht bemuttern lassen. In der lebenslustigen Frida, der verwitweten Schwiegertochter ihres neuen Arbeitgebers, findet Lou genau die Freundin, die sie jetzt braucht. Lou bricht aus ihrem bisherigen Leben aus, zieht bei Frida ein und lernt durch sie das Münchner Bohème-Leben in vollen Zügen genießen: Champagner, kulinarischer Überfluss und ein neuer Liebhaber, der sie Curd beinahe vergessen lässt. Allerdings ist Ernst ein verheirateter Mann. Und mögen ihn die anderen aufgrund seines Aussehens auch Julius Cäsar nennen, autark wie jener ist Ernst deshalb keineswegs. Dieser Part obliegt seiner snobistischen Frau Hilde, von der sich Ernst – darüber wird sich Lou ziemlich schnell klar – nicht ohne Grund dominieren lässt. Dennoch stimmt sie dem Vorschlag einer Adoption durch die beiden zu. Fortan lebt Lou in der Villa des Ehepaares, nicht wissend, ob Hilde ihr Verhältnis zu Ernst durchschaut oder nicht. Das Ziel einer eigenen Taschenkollektion vor Augen, entwirft und fertigt Lou auch in der Villa weitere Modelle an. Trotzdem gerät sie immer mehr in Hildes Fänge, die ihre ganz eigenen Pläne mit ›Luise‹ verfolgt …

Fragiles Lebensgerüst

Nicht nur Lou will vergessen was war – eine ganze Generation stürzt sich in einen langanhaltenden ›Tanz des Vergessens‹. Ob jung oder alt, es gilt nicht nur die Schrecken eines jahrelangen ›Maschinenkrieges‹ zu überwinden. In München will man auch die brutalen Übergriffe der ›Weißen‹ so schnell als möglich aus dem kollektiven Bewusstsein verbannen. Der Hauptfigur dieses Romans gelingt das, indem sie sich von einem Vergnügen ins nächste stürzt. Rehn entwirft gekonnt und für die Leser nachvollziehbar das Szenario eines verlorenen Menschen, dessen unausweichlicher Kollaps unmittelbar bevorsteht. Einen großen Teil der Spannung zieht der Roman deshalb auch aus der Figur der Lou selbst, denn sie ist es, die den Leser bangen lässt. Der komplette Einsturz dieses fragilen Lebensgerüsts ist nur eine Frage der Zeit – und spiegelt nicht zuletzt somit den Zustand einer ganzen Gesellschaft wider.
Daneben sind es viele andere Figuren und Szenerien, die die neue Freiheit mit ihrer ganzen Ambivalenz und ihrem innewohnenden Gefahrenpotenzial der ›Goldenen Zwanziger‹ heraufbeschwören, und den Leser von der ersten Seite in den Bann ziehen.
Lou ist die verlorene Seele in diesem Roman, das Mädchen, das man am liebsten an die Hand nehmen und durch die Verlockungen der Zeit lotsen möchte. Lou muss einen harten, steinigen Weg gehen, um mit ihrem Schicksal ins Reine zu kommen. Er führt sie von München in die aufregende Metropole Berlin. Dort muss sich Lou schließlich für einen Lebensweg entscheiden …
Neben Lou faszinierte mich vor allem die Figur der Judith. Auch sie muss sich in dieser neuen Zeit zurechtfinden und ihren Platz im Leben erkämpfen. Sie ist älter als Lou und vielleicht ist es auch dieses, Judiths nach außen gezeigtes Selbstbewusstein, das Lou einschüchtert. Wie so viele andere feiert und tanzt auch Judith oft und gern und ausgelassen. Doch anders als Lou verliert Judith sich und ihr Lebensziel dabei nicht aus den Augen, liefert sich diesem komatösen Feierzustand nicht gänzlich aus. Als Journalistin ist sie es gewohnt ihre Umgebung aufmerksam zu beobachten. Ihr analytischer Verstand arbeitet rasch, und so bleibt ihr das zwar langsame, aber unaufhaltsame Erstarken der braunen Horden – auch aus eigener Erfahrung – nicht verborgen. Zudem macht Judith aus ihrer Liebe zu Frauen keinen Hehl, und passt somit hervorragend in das Bild der liberalen ›Goldenen Zwanziger‹.
Auch Max kommt in diesem Roman eine größere Rolle zu, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Und natürlich sind es noch jede Menge anderer Figuren, die Rehn gewohnt vielschichtig angelegt hat. Es hat viel mit der Liebe zum Detail zu tun, aber auch mit der Fähigkeit Unwichtiges, Ablenkendes wegzulassen. Rehns Roman gleicht insofern einer Obduktion: Schicht um Schicht legt die Autorin von dieser goldenen Dekade frei. Das ist ebenso spannend wie aufschlussreich und ergreifend.
Während die gehobene Gesellschaft Münchens in ihren feinen Salons einen Emporkömmling namens Hitler, der im Roman in einem gelben Gummimantel auftritt, hofiert, unterstützt und diesen über die Zukunft Deutschlands schwadronieren lässt, feiern andere ausgelassen mit Absinth und Kokain rauschende Feste in den Varietés der Stadt. So oder so, es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Und es bleibt bis zur letzten Seite spannend, wie dieser für Lou ausgehen mag.

Extras

Auch das Buch selbst lässt das Flair der ›Goldenen Zwanziger‹ offenbar werden. Ob es nun die Schrifttype der Seitenzahlen oder die Jugendstilornamente sind, mit denen die Kapitelzahlen eingerahmt sind. Ein ausführliches und überdies informatives Nachwort und ein ausführliches Glossar stillen alle Lesewünsche. Last but not least – auf der Innenseite des Umschlages hat der Knaur Verlag die Begrüßung der Autorin abgedruckt. Wer mehr über Heidi Rehns Stadt München wissen möchte, der sollte die Autorin auf einem ihrer literarischen Spaziergänge begleiten und Lous München der »Goldenen Zwanziger« kennenlernen.

Fazit

Heidi Rehn gelingt mit »Tanz des Vergessens« ein ebenso eindringlicher wie atmosphärisch dichter Roman über die ›Goldenen Zwanziger‹ in München {und später in Berlin}. Der indes nicht in dieser Dekade verharrt, sondern aufmerksamen Lesern einen Blick über den zeitlichen Tellerrand ermöglicht. Mag die Gesellschaft in den einschlägigen Varietés Münchens ihrer eigenen, vagen Zukunft trinkend, tanzend und Kokain schnupfend entkommen wollen, so sitzt sie doch auf einem Pulverfass, dessen rechtsgerichtete Lunte schon längst zündelt …

Die Autorin

Heidi Rehn, geboren 1966, studierte Germanistik, Geschichte, BWL und Kommunikationswissenschaften. Nach einer Dozentur an der Ludwig-Maximilians-Universität, arbeitete sie als PR-Beraterin. Seit mehr als fünfzehn Jahren arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Website der Autorin

Heidi Rehn bei Knaur