Pfaueninsel

Buchbesprechung: Thomas Hettche – »Pfaueninsel«

Das Kölner Literaturhaus veranstaltete einen Abend mit Thomas Hettche {»Pfaueninsel«} – das Histo Journal war dabei.

Gelesen & Notiert von T.M. Schurkus

»Ich weiß nicht, was ein historischer Roman sein soll.«

»Pfaueninsel«

»Pfaueninsel«
Thomas Hettche

Eine Insel außerhalb der Zeit
Die Pfaueninsel in der Havel ist ein künstliches Paradies. In seinem opulenten, kundigen und anrührenden Roman erzählt Thomas Hettche von dessen Blüte, Reife und Verfall aus der Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie, in deren Lebenslauf sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts verdichtet.
Es mutet an wie ein modernes Märchen, denn es beginnt mit einer Königin, die einen Zwerg trifft und sich fürchterlich erschrickt. Kaum acht Wochen nach dieser Begegnung auf der Pfaueninsel, am 19. Juli 1810, ist die junge Königin Luise tot – und der kleinwüchsige Christian und seine Schwester Marie leben fortan weiter mit dem entsetzten Ausruf der Königin: »Monster!« Damit ist die Dimension dieser Geschichte eröffnet. Am Beispiel von Marie, die zwischen den Befreiungskriegen und der Restauration, zwischen Palmenhaus und Menagerie, Gartenkunst und philosophischen Gesprächen aufwächst und der königlichen Familie bei deren Besuchen zur Hand geht, erzählt Thomas Hettche von der Zurichtung der Natur, der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit und der Empfindsamkeit der Seele und des Leibes.
Dabei geht es um die Gestaltung dieses preußischen Arkadiens durch den Gartenkünstler Lenné und um all das, was es bevölkerte: Palmen, Kängurus und Löwen, Hofgärtner, Prinzen, Südseeinsulaner, Riesen, Zwerge und Mohren – und es geht um die Liebe in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen.

Weitere Informationen zum Buch finden Sie auf der Website des Verlags.

Er erscheint auf Bestseller- und Buchpreislisten: Der Roman »Pfaueninsel«, in dem Thomas Hettche den Lebensweg der Zwergin Maria – »Marie« – Dorothea Strakon quer durch das 19. Jahrhundert nachzeichnet. Sie hat tatsächlich gelebt, aber mehr als ihre Lebensdaten {1800-1880} weiß man kaum. So wurde Hettche dann auch von seinem Verleger gefragt, wie man angesichts solch einer dünnen Faktenlage an einen Roman heran geht. Der Autor erklärt freimütig, dass er gerne schamlos erfindet. Für ihn begann die Geschichte 1989, als er sich mit einem Stipendium in West-Berlin aufhielt. Damals verlief unweit der Pfaueninsel noch die Grenze zur DDR, was die Insel zu einer Enklave in einer Enklave machte. Das muss sie auch zu Zeiten von Marie immer wieder gewesen sein: Die großen Dramen der Zeit, die Napoleonischen Kriege, die Cholera, die industrielle Revolution dringen nur als Gerüchte auf die Insel, auf der sich der preußische Hof eine Art »Phantasialand« errichtete mit exotischen Pflanzen, seltenen Tieren und – einer »Monstrositäten«-Schau an Menschen: Zwerge, Riesen, »Wilde«, »Mohren«.

Geschichte der Gartenbaukunst und sexuelle Phantasien

Eine einzige Quelle genügte, um Hettche zu inspirieren: Ein Aufsatz über einen Besuch auf der Pfaueninsel Mitte des 19. Jahrhunderts. Dort wurde erwähnte, dass man an der Anlegestelle von der Zwergin – der »Schlossjungfrau« – und dem Riesen erwartet wurde, beide sichtlich übernächtigt von einem Fest am voran gegangenen Abend. Was an Fakten über die Hauptfigur fehlte, ergänzt Hettche mit einer Fülle an historischen Anmerkungen und kulturphilosophischen Reflexionen. So hat man beim Lesen manchmal das Gefühl, man befinde sich auf »Pfauen-pedia«, als müsste mancher Begriff blau unterlegt sein, damit man sich durchklicken kann: Durch die Geschichte des preußischen Hofes, durch die bauliche Entwicklung der Pfaueninsel und ihrer Gebäude und natürlich durch die Geschichte der Gartenbaukunst, die »verläuft ganz parallel zu derjenigen unserer sexuellen Phantasien« (157). Ein Abtauchen in ferne Zeiten ist mit der direkten Ansprache an den heutigen Leser ausgeschlossen, zu oft blitzt der Essayist durch. Versierten Lesern historischer Romane mag das als »Info-dropping« störend auffallen. Aber ist das Buch überhaupt ein historischer Roman? Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat auf diese Gattungsbezeichnung verzichtet und auch der Autor kann sich mit der Genre-Bezeichnung nicht anfreunden: »Ich weiß nicht, was ein historischer Roman sein soll«, denn: Wann ist die Gegenwart zu Ende, wann fängt die Vergangenheit an? Für Hettche sind historische Romane der durchaus fragwürdige Versuch, moderne Konflikte in historischen Kostümen darzustellen. Man mag dem die Frage entgegen setzen: Wann ist ein Konflikt ein ›moderner‹ Konflikt?

»Freakshows« auf der Pfaueninsel

Maries Wunsch geliebt zu werden und sich folglich mit Schönheitsidealen auseinander zu setzen ist jedenfalls ein zeitloses Thema, ebenso wie die ewige Frage ob Sex denn nun ein Beweis für Liebe oder doch nur für Triebhaftigkeit ist. Und selbst die auf der Pfaueninsel inszenierten »Freakshows« kennen ihr heutiges Gegenstück: Nicht mehr für Königshöfe, sondern für Fernsehzuschauer werden Dicke verkuppelt, Hässliche zurecht operiert, Messies beiseite geräumt, alles mit der Geste des Mitgefühls, so wie man sich zu Maries Zeiten in der Geste des wissenschaftlichen Interesses gefiel.
Wie nähert sich ein {männlicher} Schriftsteller des 21. Jahrhunderts der kleinwüchsigen Frau des 19. Jahrhunderts an? »Sie ist mir grundsätzlich fremd«, erklärt Hettche auf die Frage seines Verlegers, betont aber zugleich, dass er die Fremdheit als produktiv empfindet. So verliert der Text nie, auch nicht in den intensiven und dramatischen Szenen, seine ›Stimme von außen‹, meist wirkt es mehr referiert als erlebt. Fast könnte man glauben, dass hinter allem das Unbehagen steht, für ein Genre vereinnahmt zu werden, das sich selten auf Buchpreislisten findet. Thomas Hettche hat den diesjährigen Deutschen Buchpreis nur knapp verfehlt – mit vier zu drei Stimmen entschied sich die Jury für Seilers Roman. Hettche, selbst viele Jahre lang Jury-Mitglied für den Ingeborg-Bachmann-Preis, kann es mit Humor nehmen: Die »Pfaueninsel« erhält in diesen Tagen den Wilhelm-Raabe-Preis und ist für den bayrischen Buchpreis nominiert.
Gefragt danach, wie es ihm denn mit all diesen {Beinahe}Auszeichnungen gehe, zeigt sich dann doch eine Gemeinsamkeit mit Marie: Er habe es auf seiner »Schreibinsel« mit Verwunderung und Freude zur Kenntnis genommen – so wie also die Zwergin manches aus dem Weltgeschehen nur aus der Ferne erlebte, so mag auch der Autor manchmal die Wechselfälle des Literaturbetriebs und seine Diskussionen um Gattungen erleben. Über die zahlreichen begeisterten Besprechungen hat Hettche sich jedenfalls gefreut: »Man will, dass das Buch geliebt wird.«

Fazit:

Und mein ganz persönlicher Eindruck von der Lektüre: Vielleicht liebe ich das Erzählen über Geschichte zu sehr, um mich wirklich für ein Buch zu begeistern, das darin stets seine Distanz wahrt. Ständig hatte ich das Gefühl, von der Erzählstimme auf eine Armlänge Abstand von Marie gehalten zu werden. Dabei habe ich vieles erfahren, das zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel die Aussage, ob Gartenbau und Pornografie wirklich zusammen hängen. Für mich also kein Buch, das man gelesen haben muss. Aber wenn man es gelesen hat, lässt sich sehr viel darüber sagen, über die Form ebenso wie über den Inhalt.

Tipp: Das Buch ist ohne Schutzumschlag, also auf keinen Fall mit eingecremten Händen anfassen, dafür hat es das von mir so geliebte Lesebändchen!

Der Autor

Thomas Hettche, 1964 am Rand des Vogelsbergs geboren, lebt in Berlin. Sein Romandebüt »Ludwig muß sterben« wurde 1989 als Geniestreich gefeiert. Danach erschien unter anderem »Der Fall Arbogast« (2001), ein Bestseller, der in zwölf Sprachen übersetzt worden ist. »Woraus wir gemacht sind«, 2006 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt veröffentlichte Hettche den hochgelobten Roman »Die Liebe der Väter« (2010) und den autobiographischen Essayband »Totenberg« (2012).

Zuletzt erschien von Thomas Hettche:
»Totenberg« Essays {HC, Verlag Kiepenheuer Witsch 2012}
»Ludwig muss sterben« Roman {HC, Verlag Kiepenheuer Witsch 2011}