Histo Journal Special: Heidi Rehn – Teil 3

Buchbesprechung: Heidi Rehn – »Der Sommer der Freiheit«

Gelesen & Notiert von Alessa Schmelzer

Sommerfrische in der Zeitenwende

»Der Sommer der Freiheit«

»Der Sommer der Freiheit«
Heidi Rehn

Inhalt des Buches:
Selma, die Tochter eines angesehenen Zeitungsverlegers, fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und verliebt sich unsterblich in ihn.
Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …

Leseprobe

Die Handlung setzt im August 1913 ein, genau ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Noch ist im eleganten Hotel ›Bellevue‹ von einem drohenden Unheil kaum etwas zu spüren. Die wohlhabenden Gäste sind ›unter sich‹ und die einzige Katastrophe besteht darin sich nicht ›comme il faut‹ zu benehmen. Selma, einzige Tochter des vermögenden Zeitungsverlegers Josef Rosenbaums, nimmt darauf wenig Rücksicht. In der Sommerfrische, fern vom Trubel der schillernden Metropole Berlins, langweilt sie sich. Sie vermisst die nächtlichen Parties mit ihren Freunden und ihrem attraktiven Verlobten Gero, der sie tagaus, tagein mit Geschenken überrascht und ihr somit den Tag und so manche Nacht versüßt. Doch Gero ist als Anwalt in seiner Kanzlei in Berlin unabkömmlich. Um seine Verlobte aufzuheitern schickt er ihr seinen roten Audi. Mit diesem erkundet Selma, die zum Entsetzten der konventionell denkenden Mutter den Führerschein besitzt, die Gegend und lernt so die reiche Fabrikantentochter Constanze kennen. Diese ist vollkommen anders als Selma. Sie ist zwar jünger, weiß aber ziemlich genau was sie in ihrem Leben erreichen will. Anders als Selma interessiert sie sich weniger für ausschweifende Parties, sondern will – darin unterstützt von ihrem Vater – ein Ingenieursstudium in Berlin beginnen. Auf einer Fahrt ins nahe Belfort lernen die beiden Frauen den charmanten Fotografen Robert kennen. Sowohl Constanze als auch Selma fühlen sich von dem gut aussehendem Mann angezogen. Sie genießen ihre Zeit zu dritt und die knisternde Stimmung die zwischen ihnen herrscht. Doch der Umstand, dass Robert als Franzose bald schon zu den Feinden zählen könnte, belastet ihre aufkeimende Freundschaft. Deshalb schließen die drei einen Pakt. Doch es wird sich zeigen, ob dieser den kommenden Umbrüchen wird stand halten können.

Die Welt ist ein Pulverfaß

»Mich interessieren die Zeiten der großen Umbrüche in der Geschichte, d.h. die Wendepunkte, die die vertraute Welt aus den Angeln heben und den Aufbruch in neue Zeitalter ermöglichen.« Davon erzählt Heidi Rehn in »Der Sommer der Freiheit« – und sie geht dabei behutsam vor. Im mondänen ›Bellevue‹ in Baden-Baden führt Rehn die Figuren der Geschichte ein und gibt ihren Lesern Zeit diese kennenzulernen, mit all deren Licht- und Schattenseiten. Rehns feinsinnige, leichte Sprache erschafft ein farbenprächtiges Bild des frühen 20. Jahrhunderts. Das gelingt ihr ausgesprochen gut. Sommerfrische – dieser Begriff katapultiert uns in das Lebensgefühl des gebildeten Bürgertums. In die Sommerfrische fuhr, wer es sich leisten konnte. Hier wollten sich betuchte Bürger entspannen, sich amüsieren und sich in der extravaganten Atmosphäre eines luxuriösen Hotels unter Gleichgesinnten wissen.

Mag Selma zu Beginn des Romans als verwöhnte junge Frau erscheinen, so wird doch sehr bald schon klar, dass sie aus eben dieser von Konventionen umklammerten Welt ausbrechen möchte. Sie ist auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Während Hedda das altbekannte bevorzugt und damit ihrer Stellung als Ehefrau eines Zeitungsverlegers und Politikers Rechnung trägt, wagt Selma sich in die sich ankündigende neue Welt vor. Das drückt sich in der freizügig gelebten Beziehung zu Gero oder einer zaghaften Annäherung zu Constanze oder Robert ebenso aus, wie Selmas Bedürfnis nach der neuen Mode aus Frankreich, die 1913 noch ›en vogue‹ war. Selma und Constanze tauschen den Rock mit einer Hose, befreien sich somit vom enggeschnürten Korsett, fahren Automobil und beschäftigen sich mit technischen Instrumenten, die bislang der Männerwelt vorbehalten war. In dem Bestreben ihr eigenes Leben zu leben wird Selma von ihrer Großmutter Meta unterstützt, die in ihrer Enkelin andere Talente als das einer treu sorgenden Ehefrau erkennt. Insofern begrüßt sie sowohl die Freundschaft mit der zielstrebigen Constanze als auch mit dem feinsinnigen Robert. Meta, sicherlich eine der herausragenden Figuren in diesem Roman, führt ein selbstbestimmtes Leben. Unter einem Pseudonym schreibt sie erfolgreich Frauenromane, korrespondiert mit gleichgesinnten Frauen wie Hedwig Dohm. Meta hält mit ihrer Meinung niemals hinter dem Berg und spricht sogar in Gegenwart Josefs – also eines Mannes! und somit gar nicht ›comme il faut‹ – über Politik. Meta ist intelligent und politisch weitsichtig. Denn schon zu Beginn des Romans erkennt sie: »Die Welt ist ein Pulverfaß, dessen Lunte längst brennt.« Sehr zum Entsetzen ihrer Tochter Hedda, die ihrerseits ihre mathematische Begabung freiwillig für die Ehe mit dem Zeitungsverleger aufgab. Durch die Figur der Meta führt Rehn dem Leser vor Augen, dass es eben nicht nur die züchtige Ehefrau im Korsett gab. Das geschieht leicht und häufig mit einem Augenzwinkern. Wie die Autorin all das kompakte Wissen über die Zeit von 1913 bis 1920 wohl dosiert verpackt, ist ein Genuss. Nicht jeder Leser wird die historischen Feinheiten, die Rehn manchmal in nur einem einzigen Begriff einfügt, aufspüren wollen. Für diejenigen aber, die sich mit der Zeit über den Roman beschäftigen wollen, gibt Rehn ein perfektes Rüstzeug mit. In »Der Sommer der Freiheit« zeigt sie einmal mehr wie geschickt sie dergleichen in eine ebenso spannende wie unterhaltsame Geschichte einzuweben vermag. Was in der Leichtigkeit einer Sommerfrische beginnt, endet im Verlust der ›vertrauten Welt‹. Aber wie Hermann Hesse schon so treffend formuliert: »Jedem Anfang wohnt ein neuer Zauber inne.«

Fazit:

Heidi Rehn entwirft ein farbenprächtiges Gesellschaftsbild jener Jahre des epochalen Umbruchs. »Der Sommer der Freiheit« ist ein gut zu lesender und dabei anspruchsvoller historischer Roman. Er überzeugt durch eine gelungene Figurenzeichnung, ist verwoben, detailreich und gewohnt erstklassig recherchiert.

Absolut lesenswert.