Angela Steidele – Anne Lister. Eine erotische Biographie

Histo Journal Buchbesprechung: Angela Steidele »Anne Lister. Eine erotische Biografie«

Gelesen & notiert von T.M. Schurkus

cover

Inhalt
Wäre sie ein Mann gewesen, müsste man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter oder Heiratsschwindler, Lüstling, Wüstling oder einfach nur Schuft: Frauen pflasterten ihren Weg. Anne Lister {1791–1840} betete sie an, begehrte, belog und betrog sie, ging ihnen an die Wäsche und ans Geld. Noch unerhörter als ihr Liebesleben sind ihre Tagebücher: In pornografischer Deutlichkeit schildert die englische Landadlige ihre zahllosen Abenteuer, mal liebeskrank, mal zynisch, so fesselnd wie obszön, so verstörend wie amüsant. Anhand dieser einmaligen Quellen zeichnet Angela Steidele erstmalig das faszinierende Porträt einer schillernden Persönlichkeit, die allen Vorstellungen vom keuschen präviktorianischen Zeitalter widerspricht. Staunenswert, kurios, entwaffnend und hocherotisch.

Leseprobe und weitere Informationen finden sich auf der Website des Verlags Matthes & Seitz Berlin.

Hardcover 28,00 €
eBook 22,99 €
Erscheinungstag: 1. September 2017

Jane Austens Feuchtgebiete

In den Romanen von Jane Austen gibt es eine Information über unverheiratete Männer, die den betreffenden voraus eilt: Er hat soundso viel Pfund im Jahr. Übersetzt bedeutet dies: Das ist das Gehalt, das man im Job als seine Ehefrau beziehen kann, und entsprechend eifrig wird sich beworben oder eben nicht. Und dann geht es natürlich mal augenzwinkernd, mal seufzend um eine unberechenbare Größe auf dem Heiratsmarkt: Das Gefühl, die Liebe. Um Erotik, um Triebe und Lust geht es natürlich nicht.
Der Erfolg dieser Romane hat das Frauenbild des frühen 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage geprägt: Die Frau war heterosexuell, gewitzt, Mode bewusst und romantisch. Am Ende der über sie erzählenswerten Geschichte hat sie den Mann gefunden, der ihre emotionalen und finanziellen Bedürfnisse bedient.
Angela Steidele ließ mich wissen, es sei ein Zufall, dass »Anne Lister. Eine erotische Biografie« im Jubiläumsjahr von Jane Austen erscheint. Natürlich ist uns allen bewusst, dass es auch andere Frauenlebensläufe zu dieser Zeit gab, und es ist erfrischend, eine Biografie, basierend auf Tagebüchern {sehr vielen Tagebüchern}, Briefen und einer umfangreichen Recherche zu lesen. Und an manchen Stellen vergewissert man sich ungläubig, dass dies kein Dokument ist, das von der LGBT-Bewegung lanciert wurde.

»Ich griff ihr ans Fötzchen«

Ohne mit den gesellschaftlichen oder religiösen Moralvorstellungen zu hadern, schreibt Anne Lister über ihre Lust auf und mit Frauen, über ihre Verführungskünste {Frauen, die sich hergaben, waren für sie uninteressant}, über das Spiel in der Intimzone, über die Anzahl und Qualität der »Küsse« {als Code für Orgasmen}, über Sex während der Menstruation, über Geschlechtskrankheiten. Wer sich also das Bild bewahren will, dass Frauen zu der Zeit vor allem hinter den passenden Bändern für ihre Kleider her waren, sei vor diesem Buch gewarnt, denn Anne Listers Offenherzigkeit brachte bisweilen auch die Autorin in Verlegenheit, die sich humorvoll als »gefühlte Pfarrerstochter« bezeichnet. Sehr viel mehr hat es aber ihre Vorgänger und Vorgängerinnen in Verlegenheit gebracht, die die handschriftlichen Aufzeichnungen Anne Listers für die Öffentlichkeit aufbereiten wollten. Es waren überwiegend HeimathistorikerInnen: Das kleine Örtchen Halifax in Yorkshire mochte sich seine Brontës, seine Austen, seine Mary Shelley gewünscht haben. Aber die Dokumente Anne Listers waren kein literaturhistorischer Schatz: Sie waren statt dessen angefüllt mit Alltagsbanalitäten, mit einer exzessiven Beschäftigung mit sich selbst – und mit erotischen Abenteuern, die in der Dokumentation gerne zusammen gefasst wurden mit der Bemerkung: »Nicht von Interesse.«
Es durfte über Jahrhunderte nicht sein, was nicht sein konnte: Eine Frau, die ihren Weg geht zwischen Bettgeschichten und der Suche nach der Frau fürs Leben – die natürlich genügend Geld haben musste. Kurzum: Eine Frau, die auf Frauen blickte, wie es sonst nur Männer tun.

Mehr als eine queere Fußnote

Das Buch liefert also zwei vordergründige Erkenntnisse: a} Die Menschen hatten schon vor 1968 eine Sexualität und waren in der Lage, darüber zu schreiben. b} Es gab auch vor Jodie Foster und Ellen DeGeneres lesbische Frauen.
– beides nicht wirklich erstaunlich, wenn es auch die Lektüre sehr unterhaltsam macht. Lesenswert wird das Buch vor allem durch die Frage nach den Geschlechterrollen, ein damals nicht öffentlich geführter Diskurs. Anne Lister leistet ihren Beitrag vor allem dadurch, dass sie sich selbst nie hinterfragt, weder ihre Sexualität {die sie als Gott gegeben sah, was vermutlich in einer Zeit ohne Biologismen einfacher war}, noch ihr Verhalten zu anderen. Rücksicht, Fürsorge, Mitgefühl, die klassischen »weiblichen« Tugenden spielen für sie keine Rolle, wenn es um ihre Partnerinnen geht. Sie müssen ihr Fremdgehen ebenso hinnehmen, wie ihre Geldverschwendung und ihre gesundheitsgefährdenden Reise- Eskapaden. Die eine verfällt der Trunksucht, die nächste flüchtet sich in Frömmigkeit und gleich zwei ihrer Ehefrauen werden psychiatrisiert – erstaunlicherweise weniger wegen ihrer Homosexualität, sondern weil Verwandte an ihr Geld wollten. Anne Lister lebte offen lesbisch, trug zwar Frauenkleidung und Brennscherenlocken, wurde aber in Zeitungsanzeigen als »Captain Tom« denunziert. Dennoch erfuhr sie wenig gesellschaftlichen Gegenwind, Onkel und Tante berieten sie sogar in der Suche nach einer Ehefrau fürs Leben. Frauen konnten hier ironischerweise einen Vorteil daraus ziehen, dass man ihnen keine eigenständige Sexualität {also eine, die nicht dem männlichen Trieb diente} zugestand. Wenn zwei Frauen zusammen lebten, konnte nichts Unzüchtiges vor sich gehen: Sie waren »rein« und wurden es wieder durch die Mutterschaft.
So stellt uns also Anne Lister die entscheidende Frage: Haben sich unsere gesellschaftlichen Leitbilder tatsächlich grundlegend gewandelt? Wenn man sie und ihre Aufzeichnungen ausschließlich als »odd« {absonderlich} abtut, als historische Freak-Show, dann sicher nicht.

Fazit

»So we´re coming out of the kitchen, because there is something we have to say to you«, heißt es in einem bekannten Frauenrechts-Song. Anne Lister hatte eine Menge zu sagen, vieles ist noch nicht erschlossen. Es ist der Fleißarbeit Angela Steideles zu verdanken, dass die ungewöhnlichen Aufzeichnungen nun auch deutschen Lesern zugänglich sind. Erzählerisch gelingt der Übergang zwischen den verschiedenen Rezeptionsstimmen nicht immer flüssig und auch in der gekürzten Fassung wirkt die Fülle der Frauenabenteuer stellenweise sich wiederholend – aber jede Seite bleibt lesenswert, nicht nur für Historiker oder LGBT-Aktivisten. Die Frage nach Geschlecht und Charakter stellt sich uns immer wieder neu, und von ihrer Beantwortung hängt gesellschaftliche Teilhabe ab. Anne Lister war keine Vorkämpferin, vielleicht nicht einmal ein Vorbild, sie war und ist eine Stimme, da wo man immer wieder gerne Schweigen verordnet. Und ihre Aufzeichnungen zu lesen, ist eine Stellungnahme.