Werkstattgespräch: Heidi Rehn

Aus der Werkstatt – Ein Gespräch über das aktuelle Projekt mit Heidi Rehn.

Histo Journal Special: Heidi Rehn – Teil 5

Das Werkstattgespräch steht ganz im Zeichen des neuen Projektes »Tanz des Vergessens«. Denn nach dem Roman ist vor dem Roman. »Tanz des Vergessens« wird 2015 erscheinen. In diesem Werkstattgespräch gewährt Heidi Rehn spannende Einblicke in die Welt des neuen Romans, reflektiert ihr schriftstellerisches Schaffen und erklärt, warum ihr Ehemann immer erst das fertige Buch lesen darf.

von Alessa Schmelzer

Histo Journal: Dein neues Projekt »Tanz des Vergessens« schließt direkt an die Zeit des Romans »Der Sommer der Freiheit« an. Was reizte dich daran, dich der Zeit direkt nach dem Ersten Weltkrieg zuzuwenden?

Heidi Rehn {HR}: Mich interessieren generell die großen Umbruchzeiten, wenn danach nichts mehr ist, wie es vorher einmal war. Der Erste Weltkrieg hat als die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« nicht nur die damalige Welt und Gesellschaft aus den Angeln gehoben, er hat auch das Leben jedes einzelnen danach komplett verändert. Im »Sommer der Freiheit« geht es vor allem um die Generation, die kurz vor Beginn des Krieges gerade in die Erwachsenenwelt eingetreten ist und dabei schon erste Kostproben vom Leben geschmeckt hat, dann allerdings kriegsbedingt sämtliche Pläne und Träume über Bord werfen und sich mit dem Alltag an der Front bzw. den Einschränkungen zuhause arrangieren muss. Im »Tanz des Vergessens« stehen dagegen jene im Zentrum, die in den letzten Kriegsjahren erst erwachsen geworden sind und mit Kriegsende die ganz große Hoffnung hegen, jetzt endlich das »wahre« Leben leben zu können. Sie hatten vorher ja quasi noch gar nichts davon kennengelernt. Nach dem ständigen Hunger, der unendlichen Not, den grausamen Erlebnissen in den letzten Kriegstagen sowie in den Wirren der Revolutionszeit 1918/19 hoffen sie, sich endlich die Zukunft nach eigenen Ideen gestalten und ihre kühnsten Träume verwirklichen zu können. Sie wollen vergessen, was war, und einfach nur nach vorn blicken und endlich einmal gute Zeiten kennenlernen. 


Histo Journal: Wird es noch einen weiteren Roman in den »Goldenen Zwanzigern« geben?

HR: Gerade plane ich einen dritten und quasi die Epoche abschließenden Roman, der zwar wiederum eine in sich abgeschlossene Geschichte mit völlig neuen Figuren erzählt, zeitlich aber exakt an den »Tanz des Vergessens« anschließt. Erzählt wird dieses Mal die Geschichte einer jungen Frau, die sich die Wirren der ersten Jahre der Weimarer Republik zunutze macht, um sich völlig neu zu erfinden. Aus mittellosen Verhältnissen stammend gelingt ihr der Sprung in die sogenannte »bessere Gesellschaft«. Inwieweit damit wirklich die sogenannten »Goldenen Zwanziger« für sie und auch die anderen anbrechen, wird sich zeigen …

Histo Journal: Thematisierst du auch schon den zunehmenden Antisemitismus?

HR: Im »Tanz des Vergessens« tauchen Figuren mit jüdischem Hintergrund auf: Judith Lichtblau und Max Smola, die engsten Freunde von Lou. Es wird für sie sicherlich nicht einfach werden. Im dritten Roman, der die zweite Hälfte der 1920er Jahre im Zentrum hat, wird der zunehmende Antisemitismus, der im »Tanz des Vergessens« durchaus schon durchscheint, sicherlich noch deutlicher werden.


»Im »Tanz des Vergessens« stehen dagegen jene im Zentrum, die in den letzten Kriegsjahren erst erwachsen geworden sind und mit Kriegsende die ganz große Hoffnung hegen, jetzt endlich das »wahre« Leben leben zu können.«

Histo Journal: Stand von vornherein fest, dass es mehrere Teile geben würde?


HR: Das hat sich erst während der Recherche und dem Schreiben am »Sommer der Freiheit« ergeben. Das frühe 20. Jahrhundert fasziniert mich seit langem. Ich lese nicht nur gern über die Zeit, sondern auch Romane, Erzählungen, Tagebücher, Biographien aus der Zeit selbst. Dabei sind mir die verschiedenen Aspekte, die ich letztlich in den drei Romanen behandele, zunehmend bewusst geworden und ich habe die Idee entwickelt, das auf drei in sich abgeschlossene Romane mit jeweils anderen Hauptfiguren aufzuteilen.

Histo Journal: Wann hast du das erste Mal über dein neues/aktuelles Projekt nachgedacht? War das alte schon komplett abgeschlossen oder gibt es auch die ineinander fließenden Gedanken? Mir kommt Patricia Highsmith in den Sinn. Sie führte eine Art Tagebuch. Darin notierte sie alle möglichen Gedanken und Ideen, {auch} um sie nicht zu vergessen.

HR: Die ersten Ideen zu neuen Romanen kommen mir eigentlich immer zu unpassenden Zeitpunkten, d.h. wenn ich gerade mitten im Schreiben eines anderen Romans stecke, auf Reisen bin oder im Theater sitze, U-Bahn fahre etc. Ich besitze unzählige Notizbücher (ich liebe Notizbücher!), gehe nie ohne eines aus dem Haus. Sobald mir etwas durch den Kopf geht, schreibe ich eine Notiz dazu. Das hilft mir, es im Gehirn besser abzuspeichern. Außerdem sichere ich mich so ab, in »ideenarmen« Zeiten – die ich bislang glücklicherweise noch nie hatte, aber man weiß ja nie – immer auf etwas zurückgreifen zu können.


Histo Journal: Werden wir Selma durch die »Goldenen Zwanziger Jahre« begleiten?


HR: Selma wird in den beiden folgenden Romanen sicher kurz durchs Bild huschen, aber es werden, wie gesagt, andere Figuren mit anderen Geschichten im Zentrum stehen.


Histo Journal: Welche Stadt wird in »Tanz des Vergessens« im Vordergrund stehen? 


HR: Im »Tanz des Vergessens« nimmt München und Umgebung den Großteil des Romangeschehens ein. Es beginnt mit der blutigen Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919, die vielen kurz nach Kriegsende von neuem alle Träume und Zukunftspläne zerstört hat. Danach werden die Zeiten in München rauer, eine extreme Angst vor allem Revolutionären, Roten breitet sich aus, die von bestimmten Kreisen natürlich auch kräftig geschürt wird, um daraus Kapital zu schlagen. Hitler und seine brauen Schergen gewinnen an Unterstützung und Einfluss. Vor allem viele Künstler suchen einen Ausweg im Weggang nach Berlin, das seine große Zeit ab Mitte der 20er Jahre erlebt….. 


Histo Journal: Klingt sowohl spannend als auch bedrohlich. Als Autorin bist du allmächtig – welches Schicksal hältst du für deine Figuren bereit? 


HR: Die Allmacht der Autorin lastet oft schwer auf mir – das Schicksal, das ich meinen Figuren bereite, beschäftigt mich sehr, weil es oft die Umstände sind, die zu diesen Schicksalen führen. Irgendwann verselbständigt sich eine Geschichte. Aufgrund der Figurencharakteristik und -konstellation sowie des historischen Hintergrunds ergeben sich bestimmte Entwicklungen, die so vorher nicht absehbar oder in ihren Konsequenzen im vollen Ausmaß nicht zu kalkulieren waren. Das lässt mich nie kalt. Gelegentlich träume ich nachts sogar von meinen Figuren. Mein größter Alptraum ist, dass mich eines Tages all diejenigen Figuren, die es in meinen Romanen – mal ganz vorsichtig ausgedrückt – nicht so sonderlich glücklich erwischt haben, unbarmherzig zur Rede stellen werden. Dann bleibt mir nur, auf Gnade zu hoffen.


Histo Journal: Welche Figuren stehen in der neuen ›Romanwelt‹ im Zentrum?

HR: Der »Tanz des Vergessens« richtet seinen Fokus vornehmlich auf die Schicksale von Lou, eigentlich Luise, Seybold, exakt zur Jahrhundertwende in Augsburg geboren, bei Kriegsende 1918 nach München ausgebüxt, sowie auf Judith Lichtblau, 1895 in Wien geboren, eine junge Journalistin, die das Kriegsende ebenfalls nach München gespült hat. Zusammen mit ihren beiden Uraltfreunden Max Smola, Dramaturg, und Curd Walther, studierter Architekt, der als Bühnenbildner arbeitet, bildet Judith das »Wiener Kleeblatt«, das im Umkreis der Münchener Kammerspiele und den Überresten der Bohèmeszene unterweg ist. Lou verdreht allen dreien gleichermaßen den Kopf. Im Mai 1919 gibt es allerdings erst einmal ein furchtbares Erwachen für sie. Fortan tanzen die Freunde den »Tanz des Vergessens«, um aus den bitteren Ereignissen der Vergangenheit endlich den besten Weg in die Zukunft zu finden.


Histo Journal: Ich hoffe es ja sehr: Wird Meta auch im neuen Roman eine Rolle spielen?


HR: Die Frauenrechtlerin Meta Kayserberg ist das große Vorbild von Judith Lichtblau. Leider aber wird sie sie nur aus der Ferne bewundern, aber es gibt ja noch einen dritten Roman aus der Zeit …

Histo Journal: Darauf bin ich jetzt schon neugierig! – Romanfiguren zu erschaffen ist eine intensive, spannende und intime Angelegenheit. Wie ausführlich sind die Figurendossiers, die du erstellst?

HR: Romane leben wesentlich von den Figuren, von denen sie erzählen. Figuren zu erfinden und zu gestalten ist für mich mit das Schönste am Schreiben. Mit jeder Figur beginnt für mich ein neues, kleines Abenteuer, das letztlich den geplanten Gang der Geschichtekomplett aus den Angeln heben kann. Deshalb koste ich es sehr aus, mich meinen Figuren anzunähern, ihnen mehr und mehr auf die Pelle zu rücken, bis ich ihnen ein wenig auf die Schliche gekommen bin. 
Am Anfang des Schreibens stehen die groben Entwürfe für die wichtigsten vier, fünf Figuren, dann kommen nach und nach mehr hinzu, die der weitere Verlauf der Handlung in das »Leben« meiner Figuren spült. 
Um den Figuren zumindest kurzzeitig auf den Grund ihrer Seele blicken zu können, lege ich natürlich sehr ausführliche Figurendossieres an. Zu Beginn ist da meist nur eine flüchtige Idee, aufgeschnappt in einem kurzen Blick in der U-Bahn, einer Geste beim Schlangestehen an der Kasse oder bei einer bestimmten Art, ein Wort zu sagen. Manchmal aber inspiriert mich auch schon der Klang eines Namens. Allmählich kommen die groben Eckdaten des Lebens hinzu: wo wurde eine Figur wann in welche Familie hineingeboren, welche Schule, Ausbildung hat sie? Wie sieht sie aus, wie kleidet sie sich? Welche Lieblingsfarbe, -duft, -satz, gute/ schlechte Angewohnheiten etc. hat sie? Allmählich wird es privater und abstrakter, mich interessieren die Träume, Erwartungen, Ängste, die eine Figur umtreiben. Ich male mir aus, wie sie auf eine bestimmte Nachricht reagiert, wie sie streitet, liebt, mit anderen umgeht… Immer wieder fertige ich auch kleine »Figurenlandkarten«, in denen ich mir einzeichne, wie die Figuren zueinander stehen. Auch das ist mir sehr wichtig, um ihr Handeln zu verstehen und den Fortgang der Geschichte besser in den Blick zu bekommen.
Auch jenseits des Schreibtischs und meiner Aufzeichnungen führe ich in Gedanken Gespräche mit meinen Figuren, treffe sie auf eine Tasse Tee oder sie begleiten mich beim morgendlichen Walken und wir schütten uns gegenseitig das Herz aus. Für mich nehmen sie so allmählich richtig Kontur an, leben quasi mit mir. Gelegentlich ertappe ich mich sogar dabei, wie ich mich weitaus intensiver als notwendig mit so mancher Nebenfigur beschäftige, an den missratenen, »bösen« Gestalten Gefallen finde, weil ich ihr Handeln noch besser verstehen muss als das der anderen, und mir für sie eigene, kleine Romane und Geschichten ausdenke, warum sie geworden sind, wie sie in meiner Romanhandlung gerade sind….
Sowohl die Dossiers der Hauptfiguren als auch die der Nebenfiguren wachsen beim Schreiben also stetig weiter an. Ich lerne sie schließlich alle mit jedem neuen Auftritt besser kennen. Mit Ende des Romans sind ihre Geschichten natürlich noch lange nicht abgeschlossen. Ich denke oft über Figuren aus den zurückliegenden Romanen nach und spinne ihr »Leben« weiter aus. Immerhin waren sie monate-, wenn nicht gar jahrelang tagtäglich bei mir zu Gast und gehen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Für jeden Roman entblättert sich letztlich ein ganzes Leben, ein Schicksal einer Figur, von dem der Roman leider immer nur einen kurzen, aber sehr entscheidenden Moment zeigen kann….. 
Ein Treffen all meiner »Figurenkinder« fände ich übrigens sehr, sehr reizvoll. Ich bin gespannt, was meine Wundärztin Magdalena zu Selma sagen würde. Die Hebamme Roswitha würde sich auf Anhieb mit Meta Kayserberg gut verstehen und Eric könnte sich gut mit Gero unterhalten …

»Immer wieder fertige ich auch kleine »Figurenlandkarten«, in denen ich mir einzeichne, wie die Figuren zueinander stehen. Auch das ist mir sehr wichtig, um ihr Handeln zu verstehen und den Fortgang der Geschichte besser in den Blick zu bekommen.
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Histo Journal: Figuren erschaffen ihre eigene Wirklichkeit …
Du lebst seit vielen Jahren in München. Denke ich an München, denke ich zuerst an Thomas Mann, die Familie seiner Ehefrau, an Hedwig Dohm. Es gab literarische Treffpunkte, eine ausgeprägte kulturelle Szene. Wie erlebst du die Stadt heute? Wie literarisch ist München im Jahr 2014?


HR: München ist nach wie vor eine sehr literarische Stadt. Es gibt zum einen die großen Verlage, daneben tolle öffentliche Einrichtungen wie das Literaturhaus mit seinen interessanten Ausstellungen und Veranstaltungen, und natürlich die verschiedensten Vereinigungen, Zirkel, Treffpunkte, an denen Literatur, Autoren und Bücher erlebbar sind. 
Für mich ist der direkte Austausch mit Kollegen sehr wichtig. Ich habe im meinen engsten Freundeskreis sehr viele Autoren aus den unterschiedlichsten Sparten. Wir treffen uns regelmäßig und tauschen uns über unsere Projekte, Bücher, Ideen etc. aus. Daneben gibt es verschiedene Stammtische und regelmäßige Treffen von Autorenvereinigungen, die ich ebenfalls mehr oder weniger regelmäßig aufsuche.
Außerdem bin ich als Autorin auch selbst leidenschaftliche Leserin und genieße einfach die vielen Angebote, die sich in Form von Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen, Bibliotheken, Vorträgen etc. in München bietet.


Histo Journal: Verwertest du eigentlich wirkliche biographische Erlebnisse? Um noch einmal Thomas Mann zu bemühen. Dieser hat zum Beispiel Briefe, die seine Schwester ihm hatte zukommen lassen, für die »Buddenbrooks« teilweise 1 zu 1 übernommen.


HR: Gelegentlich gehen natürlich eigene Erlebnisse, Beobachtungen u.ä. in die Romane ein, allerdings nie 1:1, was ja schon durch den zeitlichen Abstand meiner Gegenwart und der der Romane verhindert wird. Sollte das Dritte betreffen, bitte ich die allerdings zuvor um ihr Einverständnis. Im »Tanz des Vergessens« zum Beispiel habe ich mir die Schwabinger Altbauwohnung einer Freundin »ausgeliehen« und entsprechend der frühen 20er Jahre ummöbliert. Aber sie passte einfach bestens.
Generell enthalten sowohl »Der Sommer der Freiheit« wie auch der »Tanz des Vergessens« einige Details, die mir aus dem Leben meiner Groß- und Urgroßeltern, von Fotoalben, Erzählungen oder z.B. ererbten Schallplatten vertraut sind. Im dritten Roman wird das noch deutlicher, weil es wirklich die Zeit ist, in der meine Großeltern noch jung und flott waren und von der sie mir oft erzählt haben. Wortwörtlich oder gar direkt wiedererkennbar werde ich das allerdings nicht gestalten.


»Im »Tanz des Vergessens« zum Beispiel habe ich mir die Schwabinger Altbauwohnung einer Freundin »ausgeliehen« und entsprechend der frühen 20er Jahre ummöbliert.«

Histo Journal: Du recherchierst ausgiebig: in der Staatsbibliothek, vor Ort, fertigst Fotos an usw. Wie behältst du den Überblick? Materialsammlung wie seinerzeit im Studium?


HR: Sehr ähnlich, ja. Wenn ich Bücher zum historischen Hintergrund lese, fertige ich mir handschriftliche Exzerpte an, wie ich es vor langem während des Studiums gelernt habe. Ähnlich verfahre ich mit den Originalmaterialien, die ich mir in Archiven anschaue. Auch da entstehen vor allem handschriftliche Notizen. Handschriftliche Aufzeichnungen, auch zu den Figuren, dem Romangeschehen etc., bilden bei mir nach wie vor die Basis. Zu jedem Roman habe ich ein entsprechendes Notizbuch für Exzerpte sowie ein größerformatiges, in dem ich mir Skizzen zu den Figurenbiographien, -konstellationen und -entwicklungen sowie zum Verlauf des Romangeschehens etc. mache. 
Fotos lege ich mir allerdings inzwischen im Computer in entsprechenden Dateien ab, ebenso speichere ich mir Links zu Quellen und Informationen im Internet auf dem Computer. Dank der Fülle an Material, die mittlerweile im Internet verfügbar ist, stellt das schon eine gewisse Erleichterung dar. Darüberhinaus habe ich allerdings nach wie vor noch einen Ordner mit kopierten Materialien oder Zeitungsausschnitten. 
Mein Ordnungsprinzip reicht also letztlich in die Anfänge meines Studiums zurück. Das System ist mir so vertraut, dass ich darüber am schnellsten und einfachsten die jeweiligen Informationen, die ich beim Schreiben brauche, wiederfinde.


Histo Journal: Verwendest du eigentlich eine bestimmte Software zum Schreiben?

HR: Auch da bin ich wohl relativ altmodisch und verwende allein Open Office, das ja Word vergleichbar ist. Von Word bin ich nur deswegen abgekommen, weil es da Probleme beim Abspeichern längerer Textdateien gab.
Auch wenn ich mir schon diverse Autorenprogramme angeschaut habe, hat mich bislang noch nichts überzeugt. Mein persönliches System mit den diversen Dateien zu Figuren, Szenen, Notizen ist über die Jahre so komplex geworden, das ich damit einfach gut zurechtkomme und {noch} keinen Vorteil im Umstieg auf ein spezielles Autorenschreibprogramm erkennen kann.


Histo Journal: Bleiben wir ein wenig bei der Arbeit am Text. Gehörst du zu denjenigen, die sagen: Ehe ich nicht 8+ Seiten geschrieben habe, verlasse ich mein Arbeitszimmer nicht?


HR: Bis ich so richtig im »flow« bin, wie man neudeutsch so gern sagt, versuche ich ein bestimmtes Mininum am Tag zu erreichen. Allerdings weiß ich nach mehr als einem Dutzend Romanen sehr gut, wie unsinnig es ist, sich durch die Vorgabe von z.B. 5 Seiten pro Tag Stress zu bereiten. An einem Tag werden es vielleicht nur 3, am nächsten dafür dann 8 oder 9 Seiten. Wenn ich richtig im Fluss bin, werden es ohnehin mehr. Wichtig ist mir immer das kontinuierliche Arbeiten am Text. Zu lange Pausen – das fängt schon bei einem Tag an – reißen mich zu sehr aus dem Gedankengang. »Besuchen Sie jeden Tag Ihren Roman«, hat Gert Heidenreich einmal gesagt. Das ist mein Motto. Und wenn es auch nur mal ein kurzer Besuch von »nur« einer halben Stunde oder Seite wird, dann war ich zumindest da und habe mich damit befasst, weitergedacht oder überdacht und lasse den Faden nicht abreißen. Das ist das Wichtigste für mich.


Histo Journal: Korrigierst du das Geschriebene sofort oder schreibst du erst alles und korrigierst anschließend {vielleicht auch in mehreren Etappen}? 


HR: Im Prinzip beides. Letztlich ist für mich ein Text nie fertig, ich kann immer wieder von neuem an ihm feilen, ändern, verbessern. Mein Einstieg in das tägliche Schreiben besteht immer darin, das am Vortag Geschriebene erst einmal gründlich durchzugehen und zu überarbeiten, um dann weiter zu schreiben. So entsteht zunächst einmal eine Rohfassung. Es ist mir ganz wichtig, einmal die Geschichte von Anfang bis Ende durchgeschrieben zu haben. Wenn das geschehen ist, lege ich eine Pause von zumeist 2- 3 Wochen ein, in denen ich möglichst nichts am Roman mache. Dann beginnt das Überarbeiten. Bis ich das Manuskript an meine Testleser und Agenturlektorin gebe, habe ich meist mindestens 2 Überarbeitungsgänge gemacht. Dann gibt es das Feedback und bevor es endgültig an den Verlag und ins eigentliche Lektorat geht, habe ich es mindestens noch 1-2 mal überarbeitet. Auch nach dem »Feinlektorat« gehe ich den Text immer noch einmal im Ganzen durch, überarbeite dann allerdings meist nur noch Kleinigkeiten, bevor ich es endgültig aus der Hand gebe.


Histo Journal: Mit wem tauschst du dich über die Figuren- oder Plotentwicklung aus? Mit wem besprichst du verschiedene Szenarien?


HR: Schreiben ist eine sehr einsame Tätigkeit. Über Wochen und Monate muss man sich ganz allein dem Text aussetzen. Umso wichtiger ist es, die ein oder andere Vertraute zu haben, die diesen Prozess nachvollziehen und verstehen kann, um einem mit Rat und Tat in den verschiedensten Stadien zur Seite zu stehen. Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich eine sehr gute, mir überaus wichtige Freundin kennengelernt, dann für einige Jahre aus den Augen verloren und schließlich – Fügung des Schicksals – bei meiner Agentin als Agenturlektorin wiedergetroffen, die mir in allen Stadien des Romans von der ersten Idee bis zum letzten Punkt zur Seite steht. Sie begleitet mein Autorendasein nahezu vom ersten Roman an und ist mir die allerwichtigste Ratgeberin. Dann habe ich noch zwei sehr enge Autorenfreundinnen, mit denen ich ebenfalls ohne Scheu über alles rund um Figuren, Plot und die damit verbundenen Probleme oder glücklichen Fügungen sprechen kann. Das ist unverzichtbar für mich, um dieses Alleinsein mit dem Text durchzustehen.


»Die beste Idee nützt schließlich nichts, wenn sie beim Leser nicht ankommt oder auf Unverständnis stößt.
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Histo Journal: Wer liest dein Manuskript zuerst? Wer liest erst das fertige Buch?


HR: Die bereits erwähnte Uraltfreundin und Ratgeberin ist meine erste Leserin und die einzige, die auch während des Schreibprozesses, also sogar noch vor der Fertigstellung der Rohfassung, etwas lesen darf. Das fertige Manuskript lesen dann noch zwei oder drei weitere Testleser, die vorher möglichst wenig bis gar nicht in den Entstehungsprozess eingebunden waren. Nur so können sie wie »echte« Leserinnen unvoreingenommen urteilen, was mir sehr, sehr wichtig ist. Die beste Idee nützt schließlich nichts, wenn sie beim Leser nicht ankommt oder auf Unverständnis stößt.
Mein Mann darf übrigens erst das fertig gedruckte Buch lesen, was er dann allerdings auch immer brav tut. Das ist ein Procedere, auf das wir uns nach dem ersten Manuskript und dem daraus resultierenden heftigen Disput geeinigt haben.

Histo Journal: Vielen lieben Dank, Heidi!

Das Cover zum neuen Roman lag zum Zeitpunkt des Werkstattgespräches noch nicht vor.

»Tanz des Vergessens«
Heidi Rehn

Frühling 1919:
Die junge Lou will nach dem tragischen Tod ihres Verlobten in den Wirren der Münchner Räterepublik nur noch eines: vergessen! Um ihren Schmerz zu betäuben, stürzt sie sich in das Bohème-Leben der frühen Zwanzigerjahre. Doch wie ein schwarzer Schatten hängt die Vorstellung über ihr, allen Menschen, die ihr nahestehen, Unglück zu bringen. Als sich dieser Glaube ein weiteres Mal zu bewahrheiten scheint, bleibt ihr nur noch ein letzter Ausweg …