Regina Schleheck im Histo Journal Interview

Histo Journal Interview: Regina Schleheck über ihren historischen Kriminalroman »Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch«

Diese Autorin schreibt und schreibt und schreibt. Die Rede ist von Regina Schleheck. Vor allem Kurzgeschichten haben es der mit renommierten Preisen vielfach ausgezeichneten Autorin offenbar besonders angetan {u.a. Friedrich-Glauser-Preis 2013}. Mit »Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch« legt die Autorin jetzt ihren ersten Roman vor. Im Histo Journal Interview mit Redakteurin Ilka Stitz verrät die gebürtige Kölnerin, warum ausgerechnet der Fall Jürgen Bartsch zum Thema ihrer Geschichte werden musste …

von Ilka Stitz

Histo Journal: Regina, »Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch« ist – nach zahllosen, zumeist preisgekrönten Kurzgeschichten – Dein erster Roman. Warum gerade jetzt?

Autorin Regina Schleheck
© Henrik Reimann

Regina Schleheck: Ich wollte schon länger einen Roman schreiben, hatte aber nie die Zeit dafür, ein Thema eine Weile am Stück zu bearbeiten. Ich bin ja Vollzeit berufstätig. Dann hatte ich das Glück, von einer Kollegin in ihr Haus nach Schweden eingeladen zu werden. Dort waren wir zu vier Autorinnen, es war sehr entspannt, und die schwedischen Sommertage sind sehr lang. Weil ich immer früh wach war, hatte ich viel Zeit zu schreiben.

Histo Journal: Und warum wähltest Du für Deinen Roman ein wahres Verbrechen und gerade Jürgen Bartsch?

Regina Schleheck: Der Gmeiner Verlag hat für die neue Reihe »Wahre Verbrechen« Autoren gesucht und mich gefragt. Da ich mich bereits mit Jürgen Bartsch befasst hatte, kam mir der sofort in den Sinn. Aber natürlich auch aus persönlicher Betroffenheit.

Histo Journal: Du kannst Dich also noch an Berichte aus der Zeit erinnern, als er im Gefängnis saß und schließlich starb?

Regina Schleheck: Oh, ich kann mich noch an viel mehr erinnern. Ich komme ja aus dem Rheinland, da herrschte zu der Zeit aufgrund der verschwundenen Kinder ganz allgemein große Angst. Ich war zwar selbst noch ein Kind damals, aber ich erinnere mich gut, dass man uns ständig eingeschärft hat, bloß mit keinem Fremden mitzugehen. Obwohl Bartsch sich ja nur für Jungen interessierte …

Histo Journal: Aber dass sich der Täter darauf beschränken würde, konnte man anfangs nicht absehen. Abgesehen von Deinen Erinnerungen, wie hast Du denn recherchiert? Es gibt ja viel Literatur über den Fall.

Regina Schleheck: Anfangs, als ich nur die vage Idee hatte, orientierte ich mich bei der Struktur des Romans nur an Jürgens Biographie. Dann habe ich erst angefangen zu recherchieren. Und da wurde mir klar, wie viel Literatur es über ihn gibt. Für mich war hauptsächlich das Buch von Paul Moor interessant {Paul Moor: Jürgen Bartsch – Selbstbildnis eines Kindermörders. Rowohlt, 2003}, der ja einen langen Briefwechsel mit dem inhaftierten Jürgen Bartsch hatte. Als mir klar wurde, wie problematisch und aufwendig es werden würde, wenn ich aus diesem oder einem anderen Buch zitiere – wegen des Copyrights – habe ich entschieden, dass Jürgen Bartsch keine eigene Stimme bekommen würde. So kam ich nicht in die Gefahr, beispielsweise wortwörtlich etwas aus einem der veröffentlichten Briefe zu zitieren.

Histo Journal: In dem Buch beleuchtest Du Jürgen Bartsch ja durch Berichte aus unterschiedlichen Perspektiven, einige Figuren erzählen in der ersten Person, andere in der dritten Person.

Regina Schleheck: Es fällt vielen Lesern gar nicht auf, aber die Perspektiven der Opfer habe ich alle in der dritten Person geschrieben, fast schon als auktoriale Erzählung. Ich wollte dadurch einen gewissen Abstand herstellen. Überhaupt war es mir wichtig, die Persönlichkeitsrechte zu wahren, daher habe ich auch über die Opfer nicht so intensiv nachgeforscht. Tatsächlich wollte ich es gar nicht so genau wissen. Nicht zuletzt, um sie zu schützen. Ich wollte mir nicht anmaßen, abbilden zu können, was diese Jungen tatsächlich durchgemacht haben, sondern es lieber fiktive Personen nachempfinden lassen. Der Hergang entspricht aber detailliert den bekannten Fakten.

Histo Journal: Du begleitest die Person Jürgen Bartsch in Deinem Buch quasi von der Wiege bis zur Bahre, indem du Menschen, die ihn gekannt haben, über ihn, aber auch über die Zeit – die 60er und frühen 70er Jahre – im Allgemeinen erzählen lässt. Eine Person, die Jürgen Bartsch bereits als Säugling kennt, heißt in Deinem Roman Anni. Gab es diese Frau wirklich?

Regina Schleheck: Jürgen Bartsch hatte tatsächlich ein Kindermädchen. Die Anni in meinem Roman ist allerdings eine fiktive Figur, die ich aus verschiedenen realen Personen zusammengesetzt habe. Aber ihre Beschreibungen und Empfindungen sind authentisch. Zum Beispiel muss Jürgen wohl ein richtig fröhliches, wonniges Kleinkind gewesen sein, das bestätigen alle, die ihn zu der Zeit gekannt haben.

Histo Journal: Wie verhält es sich in Deinem Buch denn mit Wahrheit und Fiktion?

Regina Schleheck: Alles, was ich über Jürgen Bartsch geschrieben habe, ist authentisch. Nur ein Mal habe ich den Zeitpunkt verändert. Das ist in dem Kapitel des Kaplans. Dieses Kapitel bildet auch eine Art Peripetie, den Wendepunkt der Geschichte. Dem Kaplan beichtet Jürgen Bartsch nicht nur seinen ersten Mord, sondern – in dem Punkt greife ich vor – vertraut ihm auch detailliert seine Gelüste und Phantasien an. Dass sein größter Wunsch sei, ein noch pochendes Herz in Händen zu halten. – So hätte ich mir übrigens den Titel des Romans gewünscht: Ein pochendes Herz. Ein ins Groteske übersteigertes Bild für die sadistisch pervertierte Sehnsucht nach Liebe.
Hätte der Kaplan sein Beichtgeheimnis gebrochen, hätte er damit natürlich sein Amt verloren, aber Menschenleben gerettet. Jürgen Bartsch hat diese sadistischen Phantasien erst später entwickelt. Aus dramaturgischen Gründen habe ich seine Äußerungen zu dem »wilden Tier« in ihm vorgezogen.

Histo Journal: Es gelingt Dir in Deinem Roman tatsächlich, dass der Leser Jürgen Bartsch nicht nur als Täter sieht, sondern auch als Opfer. Er war ja ein Waisenkind, und wurde von dem Ehepaar Bartsch adoptiert. Von da an wurde er misshandelt, wahrscheinlich missbraucht, und sozial isoliert. Angeblich wollten seine Eltern durch die völlige Abschottung einen möglichen schlechten Einfluss durch nicht standesgemäßen Umgang verhindern, in Wirklichkeit fürchteten sie wohl, dass irgendjemand von der Adoption erfahren würde, wenn Jürgen draußen herumlief. So war er jahrelang den Misshandlungen seiner Mutter ausgesetzt, später ging die Tortur in dem katholischen Internat weiter, wo Lehrer die Kinder missbrauchten und verprügelten. Die einzige Form von Zuwendung, die Jürgen kannte, war Gewalt.

Regina Schleheck: Ja, und die ganze Zeit war Jürgen der liebende Sohn. Er hat mit der sadistische Mutter nie gebrochen, und die Eltern haben ihrerseits immer Schadensbegrenzung betrieben. Sie müssen ja gewusst oder zumindest geahnt haben, was ihr Sohn trieb. Bei den ersten Anzeigen gegen Jürgen haben sie durch Geldzahlungen oder durch Druck erreicht, dass sie zurückgezogen wurden. Jürgen, der viel Geld brauchte, um seine Opfer aufzutreiben, hat seine Familie ständig beklaut, und sie indes haben am Ende ihr gesamtes Vermögen für ihn geopfert, um alles »unter der Decke« zu halten, zuletzt haben sie mit Rolf Bossi sogar einen Staranwalt engagiert. Es herrschten wirklich kranke Beziehungen in der Familie, aber darüber hinaus war die ganze Gesellschaft, die Kirche, Lehrer, alle irgendwie darin verstrickt, haben alle irgendwie vertuscht. Der Beichtvater beispielsweise hätte weitere Morde verhindern können, tat es aber nicht. Und die Polizei hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die Vorfälle nicht weiter verfolgt wurden. Die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft insgesamt war geprägt von Verdrängung und Tabuisierung.

Histo Journal: Hast Du mit Zeitzeugen gesprochen? Es hätte sich ja angeboten.

Regina Schleheck: Nein. Ich habe um der Authentizität willen viel recherchiert, wollte aber von Anfang an einen Roman schreiben. Deswegen habe ich ja auch die Namen der Opfer verändert und in der Richtung nicht weiter nachgeforscht. Mit Jürgen Bartsch verhält es sich anders. Ich wollte schon seine Persönlichkeit zeigen, in seine Gedanken eindringen, aber gebrochen. Auch deswegen habe ich die zuerst geplante Perspektive des Täters wieder verworfen.
Ich maße mir nicht an, in Jürgens Kopf zu blicken. Gerade weil es ihn gegeben hat. Wäre er eine erfundene Figur, wäre es anders. Ich finde es wichtig zu betonen, dass man eben nicht sagen kann: so und so ist er gewesen. Mein Buch ist ein Roman, auch wenn alle Fakten über Jürgen Bartsch stimmen. Mir ging es in erster Linie um das Phänomen; um die Frage, warum jemand solche Dinge tut. Das Buch ist ein Versuch nachzuempfinden, wie es gewesen sein könnte. Wie man solch einen Fall erklären kann. Die verschiedenen Blickwinkel meiner Personen stellen es dem dem Leser frei sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und weil es exemplarisch, allgemeiner sein sollte, habe ich auch die Namen der Opfer geändert. Letztlich kann man die natürlich überall finden.
Im Nachhinein habe ich übrigens Dokumente geschickt bekommen von einer Person, die Jürgen Bartsch persönlich kannte und bezeugen kann, dass er in furchtbarer Weise missbraucht wurde. Die Zeitzeugin hat sich ausdrücklich bei mir bedankt, dass ich Jürgen nicht als Bestie geschildert habe.

Histo Journal: In Deinem Buch kommen ja verschiedene Wegbegleiter zu Wort. Ein Nachbarsjunge, ein Schulkamerad, die Säuglingsschwester und Kinderfrau Anni. Was war Dir bei der Figurenauswahl wichtig?

Regina Schleheck: Ich wollte verschiedene Stationen seines Lebens beleuchten und habe überlegt, wer ihn über einen längeren Zeitraum gekannt haben oder ihm immer wieder begegnet sein könnte.

Histo Journal: Es fällt auf, dass diese Figuren auch ihre eigenen Probleme mit sich herumschleppen. Und auch die sind alle irgendwie sexueller Natur.

Regina Schleheck: Ja. Damit wollte ich Jürgen Bartschs Taten in die allgemeine Auffassung von Sexualität innerhalb der damaligen Gesellschaft einordnen. Es stimmt, jede Figur hat Probleme. Anni wegen ihres unbekannten Vaters, ein Klassenkamerad von Jürgen hat eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, eine Frau hat eine besondere Neigung zu versehrten Männern … Das ist ja auch ein Spiegel der sexuellen Verklemmtheit der Gesellschaft in dieser Zeit. Wie sind die Spielarten der Sexualität, wo sind die Grenzen? Was ist erlaubt, was verboten? Was ist zwar verboten, wird aber geduldet? Da spielen natürlich Themen wie die männliche Homosexualität, die bis 1969 generell verboten war, oder die Abtreibung eine wichtige Rolle. Aber auch die alltägliche Gewalt. Prügel im Elternhaus, in der Schule – das war die Normalität.

Histo Journal: Die sexuelle Abartigkeit Jürgen Bartschs stellt sich dem Leser in den Szenen mit den Opfern besonders drastisch dar. Du beschreibst die Folter sehr detailliert.

Regina Schleheck: Ich habe nichts hinzuerfunden. Wie sich das im Einzelnen abgespielt hat, hat er selbst erzählt in seinen Briefen. – Ich fand die Opferperspektive ganz entsetzlich. Daher habe ich das Schreiben dieser Kapitel lange vor mir hergeschoben.

Histo Journal: Du hast die einzelnen Perspektiven, die meisten kommen ja mehrmals vor, an einem Stück geschrieben?

Regina Schleheck: Mehr oder weniger. Ich bin ja das Schreiben von Kurzgeschichten gewöhnt. Da kam mir die Untergliederung in einzelne kürzere Kapitel entgegen. Davon abgesehen hat jede Figur eine eigene Sprache, da ist es natürlich gut, wenn man dazwischen nicht hin- und herspringen muss.

Histo Journal: Warum gibt es eigentlich keine Ermittlerfigur? Für den letzten Teil hätte sich das doch angeboten?

Regina Schleheck: Die Ermittler fand ich uninteressant, zumal sie ja offensichtlich nicht besonders effektiv gearbeitet haben. Sie waren von Anfang an an der Vertuschung beteiligt. Mich interessierte die Psyche des Täters. Auch wenn das nicht schön ist, oder gerade weil es nicht schön ist.

Histo Journal: Jürgen Bartsch starb im Gefängniskrankenhaus an den Folgen einer Kastrationsoperation.

Regina Schleheck: Ja, und da gibt es natürlich auch viele Spekulationen. Er starb während der Operation, die ein Pfleger durchführte. Damals wohl nicht unüblich. Der verwechselte zwei Substanzen und Jürgen starb an einer Überdosierung. Es wurde natürlich gemunkelt, dass die Verwechslung kein Versehen war, zumal durch diesen Pfleger wohl schon zuvor jemand ums Leben gekommen war.

Histo Journal: Du sprichst sehr persönlich über Jürgen Bartsch. Bist du ihm während der Arbeit am Buch post mortem nähergekommen?

Regina Schleheck: Nicht nur ihm. Die ganze Zeit, die ich ja als Kind noch erlebt habe, war mir wieder sehr präsent. Dazu kommt, dass ich, als ich im Zuge der Recherche auf ein Foto seines Grabsteins stieß, mich zu erinnern vermeinte, dass ich an genau diesem Grabstein ganz oft vorbeigelaufen war. Jürgen war ja nicht an seinem Heimatort beigesetzt worden, sondern irgendwo, wo man sein Grab nicht so leicht finden und schänden konnte. Als ich einem meiner Söhne das Foto zeigte, bestätigte er sofort, dass er es auch von unseren regelmäßigen Friedhofsbesuchen kannte. Wir haben es, als wir danach suchten, nicht mehr gefunden. Aber das Gefühl, dass er mich auch nach seinem Tod noch begleitet hat, bleibt.
Ein Mensch, mit dem man sich so intensiv beschäftigt hat, wird einem nicht nur vertraut, sondern es entsteht so etwas wie Verständnis, nahezu Zuneigung. Viele seiner Erfahrungen waren mir ja selbst sehr vertraut. Die Gefühle, die Jürgen Bartsch beherrscht haben müssen: Angst, Wut, Hass, sind absolut nachvollziehbar. Er war zuallererst ein Mensch. Einer, bei dem verdammt viel schief gelaufen ist. Wenn wir ihn zur Bestie dämonisieren, wollen wir das sehen, was ihn von uns unterscheidet. Um uns in der Sicherheit zu wiegen, dass wir niemals solche Dinge hätten tun können. Wir machen es uns damit sehr einfach. Und vertun die Chance zu verstehen, was wir besser machen müssen, um zu verhindern, dass Menschen sich so entwickeln.

Histo Journal: Vielen Dank, Regina!