Heidi Rehn

Interview mit Heidi Rehn zur Neuerscheinung ihres Romans »Tanz des Vergessens«

»Lou ist mir ans Herz gewachsen wie selten eine Romanfigur zuvor.«

Am 1. Juli erscheint der neue Roman »Tanz des Vergessens« von Heidi Rehn. Grund genug mit der sympathischen Autorin über besondere Romanfiguren sprechen, was das Luitpold zu ihrem Lieblingscafé macht und wen sie auf ihren exklusiven ›Streifzügen‹ durch ihre Wahlheimat München mitnimmt – und warum.

von Alessa Schmelzer

Histo Journal: In wenigen Tagen erscheint Dein neuer Roman »Tanz des Vergessens«. Im Histo Journal Werkstattgespräch hast Du vor ein paar Wochen Interessantes darüber verraten. Für diejenigen Leserinnen und Leser, die das Werkstattgespräch noch nicht gelesen haben … worum geht es in dem neuen Roman?

Heidi Rehn {HR}: »Tanz des Vergessens« beginnt mit einem Ende – dem Ende des Experiments Räterepublik in München. Meine Heldin Lou, um 1900 geboren und nach Ende des soeben leidlich überstandenen Ersten Weltkrieges voller Hoffnung auf die Zukunft, muss leider miterleben, wie rasend schnell sich das eben noch tiefrevolutionäre München und der von Kurt Eisner im November 1918 ausgerufene Freistaat in die »Ordnungszelle Bayern« verwandeln. Ihr Verlobter, mit dem sie eben noch fröhlich tanzte, wird eines der mehr als eintausend {!} zivilen Zufallsopfer, die im Zuge der brutalen Niederschlagung der Räterepublik zu beklagen sind. Während sie noch trauernd ihren «Tanz des Vergessens” um das Grab ihres Verlobten tanzt, geht das Leben um sie herum erstaunlich schnell wieder seinen gewohnten Gang. Damit muss Lou klar kommen und so wird es eine Geschichte von der Suche nach Frieden und Glück, aber letztlich auch eine Geschichte vom Erwachsenwerden. Natürlich darf dabei auch die Liebe nicht zu kurz kommen.

Histo Journal: Was macht die Figur der Lou für Dich so besonders?

HR: Lou ist mir ans Herz gewachsen wie selten eine Romanfigur zuvor. Sicherlich hängt es damit zusammen, dass ich nahezu jeden Tag an Ecken vorbeikomme, die auch im Roman und in ihrer Geschichte eine große Rolle spielen. So werde ich immer wieder an sie erinnert. Dann ist es natürlich auch ihr Schicksal, steht sie doch für eine Generation, die so sehr darauf gehofft hat, nach dem Großen Krieg 1918/19 endlich ins wahre Leben zu starten, und stattdessen ein weiteres sehr bitteres und tragisches Erlebnis verkraften muss. Letztlich muss Lou lernen, wie man sich mit dem Auf und Ab des Lebens arrangiert. Unter völlig anderen Vorzeichen knabbere ich wie sicher viele andere auch selbst jeden Tag aufs Neue an dieser Herausforderung. Das Fontane-Zitat, das ich dem Roman vorangestellt habe, trifft es deshalb sehr schön:
Die kleinen Freuden aufpicken, bis das große Glück kommt. Und wenn es nicht kommt, dann hat man wenigstens die "kleinen Glücke" gehabt.
Das muss Lou ebenso lernen wie wir alle. Mal gelingt es besser, mal weniger gut, aber dennoch darf man die Hoffnung nie aufgeben. Das verbindet mich {und hoffentlich bald auch viele Leser} mit Lou.

Histo Journal: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt München als ›Kunststadt‹. Wie konnte diese Stadt zur ›Wiege des nationalsozialistischen Terrors‹ werden? Findest Du, findet Lou darauf eine Antwort?

HR: Das ist eine sehr, sehr große Frage, die bereits ganze Historikergenerationen beschäftigt hat. Im soeben eingeweihten NS-Dokumentationszentrum in München findet sich eine große Etage mit Material, Fotos, Zeitungstexte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen genau dazu. Darunter sind viele Dokumente, die ich mir im Rahmen meiner Recherche ebenfalls schon angeschaut hatte.
Meine Romanfigur Lou erlebt aus erster Hand mit, wie groß die Sehnsucht der Menschen nach dem Krieg 1918 und in Folge des Chaos der Revolution, vor allem nach ihrer äußerst brutalen Niederschlagung Anfang Mai 1919, ist, dass Ruhe, Ordnung und Stabilität wiederhergestellt werden. Das ist eine mögliche Erklärung, die es den Rechten erleichtert hat, plötzlich derart viele Anhänger zu finden. Ganz bewusst hat Gustav Ritter von Kahr, der auf den SPD-Politiker Johannes Hoffmann im Amt des Ministerpräsidenten folgte, Bayern als »Ordnungszelle« bezeichnet und damit auch im Gegensatz zu der angeblich nach wie vor chaotischen, von sozialdemokratischen und linken Politikern dominierten Republik in Berlin gestellt. München die Ordnung, Berlin das Chaos, das ist die Botschaft dahinter.
Viele der Revolutionäre wie z.B. Gustav Landauer, Ernst Toller und Erich Mühsam waren zudem Juden, was es Rechtskonservativen wie Kahr und Antisemiten wie Hitler erleichtert hat, das für ihre antisemitische Propaganda zu nutzen. Viele Künstler, die oftmals ebenfalls jüdischer Abstammung waren, zog es deshalb nach Berlin. Damit verlor auch die ehemalige »Kunststadt München« Mitte der Zwanziger Jahre ihre Bedeutung. Thomas Mann und einige Gleichgesinnte haben das übrigens in einer Tagung 1926 aufgegriffen.

Histo Journal: Was hat Dich bei Deinen ›Münchner‹ Recherchen besonders erschüttert, was hat dich positiv überrascht?

HR: Seit ich in München lebe, beschäftigen mich die Ereignisse der Jahre 1919-1923, der markante Wandel, der sich damals in München und Bayern vollzog. Lion Feuchtwanger hat das in seinem Roman »Erfolg« schon so treffend und amüsant geschildert, auch Oskar Maria Graf {»Wir sind Gefangene«}, Ernst Toller {»Eine Jugend in Deutschland«} und viele andere. Das alles wieder zu lesen, hat sehr viel Spaß gemacht. Diese Bücher kann ich nur jedem immer wieder ans Herz legen. Sie sind von einer erstaunlichen Voraussicht und zugleich sehr zeitlos, weil man vieles von heute darin wiedererkennt. Erschreckend eigentlich.
Erschüttert hat mich bei der Recherche vor allem ein Bildband, der zum Teil sehr grausame Fotos aus jenen Maitagen 1919 zeigt. Mehr als eintausend Menschen sind damals dem Kampf gegen die Revolution in München zum Opfer gefallen. Die meisten davon waren völlig unbeteiligt, sind einfach nur zur falschen Zeit zufällig am falschen Ort gewesen, wie der Verlobte meiner Romanfigur Lou. Das so deutlich vor Augen zu sehen, war eine aufwühlende Erfahrung. Ebenso die anderen Berichte aus jenen Tagen, sowohl von Sympathisanten wie auch von Gegnern der Räterepublik, die am Tag danach »mal einfach nur schauen gegangen sind«, was in der Stadt passiert war. Wie Lou finde ich es unfassbar, wie schnell trotz allem wieder der Alltag einkehrte, wie rasch diese Erlebnisse verdrängt wurden. Kein Jahr später gab es schon wieder wilde Faschingsfeste und alles drehte sich um die Frage, wie teuer die Maß Bier auf dem Oktoberfest sein wird.
Das alles mit Orten zu verbinden, an denen sich auch mein Alltag nahezu täglich abspielt, macht es natürlich ganz besonders. Da vermischt sich das Heute vor meinen Augen wie von selbst mit den Fotos von Gestern.

Café Luitpold
Foto: Alexander Rehn

Histo Journal: Das Café ›Luitpold‹ ist Dein Lieblingscafé. Dort gingen seinerzeit schon Frank Wedekind, Stefan George und ein Klaus Mann {bis es zum Treffpunkt von SS und SA wurde} ein und aus. 1899, elf Jahre nach der Eröffnung, fand dort im Oktober der Erste Bayrische Frauentag statt … Atmest Du dort die Geschichte einer vergangenen Zeit?

HR: In jedem Fall, auch wenn das Luitpold heute natürlich nicht mehr dasselbe ist wie damals. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Luitpoldblock schwer beschädigt und später nur noch teilweise in der alten Form wiederaufgebaut. Die zur Zeit meines Romans noch existierenden verschiedenen Restaurants wie auch der europaweit berühmte Billardsaal und das Luitpold Tabarin sind leider längst verschwunden. Der Tanzsaal in den ehemaligen Prinzensälen, in dem meine Lou noch so eifrig das Tanzbein schwingt, wurde übrigens schon wenige Jahre später zu einem großen stadtbekannten Filmtheater umgebaut. Trotzdem atmet das Luitpold nach wie vor noch eine ganz besondere Atmosphäre. Außerdem gibt es dort natürlich Luitpold- und Prinzregententorte, zwei sehr köstliche Spezialitäten, und zudem die berühmte Luitpoldlimonade. Die sollte man alles unbedingt einmal probieren. Vielleicht sehen wir uns dort einmal? Ich sitze nach wie vor sehr gern dort und denke darüber nach, was diese Mauern schon alles erlebt und wen sie alles haben kommen und gehen sehen.

Café Luitpold {oben und unten links}, Prinzregent Luitpold von Bayern {unten rechts}
Die Historische Aufnahme zeigt das Café Luitpold um 1900
Fotos Café Luitpold und Prinzregent Luitpold von Bayern: Heidi Rehn

Histo Journal: Eines noch … was hat es mit Deinen ›Streifzügen‹ auf sich?

HR: Das sind Spaziergänge zu ausgewählten Romanschauplätzen in der Münchener Maxvorstadt, die ich meinen Leserinnen und Lesern künftig regelmäßig anbiete. Dabei führe ich zu sechs Punkten, angefangen von der Ludwigstraße, über die damals die »weißen« Regierungstruppen und Freikorpsler Einzug gehalten haben, über das Café Stefanie in der Theresienstraße, der Treffpunkt der Münchener Bohème und der späteren Revolutionäre Toller, Mühsam, Landauer, bis zum Karolinenplatz, wo wir einen der berühmten Auftritte Hitlers in einem Salon der besseren Gesellschaft erleben {den ich aus dramaturgischen Gründen allerdings zwei Jahre vor seinen historisch belegten Besuchen im Hause des Verlegerpaares Bruckmann datiert habe und deshalb bei fiktiven Gastgebern stattfinden lasse}. Der Abschluss bildet natürlich ein Besuch im Café Luitpold, in dem auch meine Romanfiguren regelmäßig verkehren.
Die Idee ist, zu zeigen, welche Rolle diese Orte, an denen einst Entscheidendes geschehen ist, in meinem Roman spielen, und natürlich, wie sie heute aussehen. Die Generalprobe hat mir bestätigt, wie spannend das selbst für diejenigen ist, die den Roman noch nicht kennen. Neben den Schilderungen des historischen Hintergrundes lese ich natürlich auch einige Kostproben aus dem Roman.

Histo Journal: Das hört sich alles sehr spannend an! Wir wünschen deinem neuen Roman viele Leserinnen und Leser. Herzlichen Dank für das Interview, liebe Heidi.


»Tanz des Vergessens«
Heidi Rehn

Inhalt:
Frühling 1919: Die junge Lou will nach dem tragischen Tod ihres Verlobten in den Wirren der Münchner Räterepublik nur noch eines: vergessen! Um ihren Schmerz zu betäuben, stürzt sie sich in das Bohème-Leben der frühen Zwanzigerjahre. Doch wie ein schwarzer Schatten hängt die Vorstellung über ihr, allen Menschen, die ihr nahestehen, Unglück zu bringen. Als sich dieser Glaube ein weiteres Mal zu bewahrheiten scheint, bleibt ihr nur noch ein letzter Ausweg …